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Große Pläne

Rohstoffe oder Hightech? Rußlands Spitzenpolitiker reden vom Vorstoß an die Weltspitze. Trotz Milliarden von Petrodollars läuft das bisher schleppend

Von Tomasz Konicz *

Rußland will endlich an die Spitze. Vor Vertretern der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erinnerte Premierminister Wladimir Putin Mitte Juni an dieses ehrgeizige Ziel und zog eine vorläufige Bilanz. Demnach befinde sich die Wirtschaft des Landes in einer Phase der Erholung von den Auswirkungen des Kriseneinbruchs. Doch es werde noch etwa ein Jahr dauern, bis das vorherige Niveau wieder erreicht sei. Rußland habe es laut Putin bereits geschafft, »zwei Drittel« des krisenbedingten Einbruchs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder wettzumachen; der Stand vor der Krise werde voraussichtlich 2012 erreicht.

Angefacht durch abstürzende Preise für Rohstoffe und Energieträger war die Wirtschaft der Russischen Föderation während der Weltwirtschaftskrise in eine heftige Rezession gerutscht, die Wirtschaftsleistung war um acht Prozent gesunken. Im vergangenen Jahr kam es zu einer langsamen Belebung, in deren Verlauf das BIP Putin zufolge um vier Prozent anstieg. Für 2011 variieren die Prognosen zwischen vier und 4,5 Prozent Wirtschaftswachstum.

Die jüngsten Zahlen des statistischen Amtes scheinen den Aufschwung zu belegen. So stiegen im vergangenen Mai die Einzelhandelsumsätze um 5,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Besonders positiv entwickelten sich die Investitionen, die im Jahresvergleich um 7,4 Prozent zulegten, während es noch im April nur 2,2 Prozent waren. Die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit ist ebenfalls deutlich gesunken: von 7,2 Prozent im April auf 6,4 Prozent im Mai. Problematisch bleibt das hohe Inflationsniveau von neun Prozent, das die realen Lohnzuwächse auf 2,6 Prozent schrumpfen ließ. Ein Teil der gestiegenen Binnennachfrage ist somit auf vermehrte Kreditaufnahme zurückzuführen. Sie legte im April um 9,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zulegte.

Diese Kennziffern und das flotte Wachstumstempo mögen angesichts der Stagnationstendenzen in weiten Teilen der Euro-Zone ansehnlich erscheinen. Doch Rußland bleibt weit hinter anderen Schwellenländern und anderen BRICS-Staaten wie Indien und China zurück. Der vom Kreml gebetsmühlenartig propagierte Aufholprozeß gegenüber dem Westen ist mit diesem Tempo ebenfalls nicht realisierbar.

»Wir stehen vor einer Gabelung« (Bifurkation im englischen Orginal), warnte Igor Jurgens vom präsidentennahen russischen Thinktank »Institut für Gegenwärtige Entwicklung« gegenüber der Financial Times (FT). »Entweder tun wir etwas, um unsere vier Prozent Wachstum zu verbessern, oder wir stagnieren.« Wladimir Mau, der im Umfeld von Premier Putin an der Ausarbeitung wirtschaftspolitischer Pläne beteiligt ist, sprach gegenüber der FT vom notwendigen Wechsel »von einer nachfrageorientierten zu einer angebotsorientierten« Wirtschaftspolitik. Rußlands Wachstum, angetrieben durch die immensen Rohstoffeinnahmen und die daraus stimulierte Binnennachfrage, soll künftig durch vermehrte Investitionstätigkeit in weitere Wirtschaftszweige und neue Produktionskapazitäten befeuert werden. Auch das ist so neu nicht, wird aber mangels sichtbarer Erfolge gern als letzte Erkenntnis der Wirtschaftsweisen verkauft.

Die langfristige Zielsetzung – Stichwort »Modernisierung« – erläuterte Putin bei seinem Auftritt vor der ILO. Der Kreml wolle »innerhalb der nächsten Dekade Rußland zu einer der fünf größten Volkswirtschaften der Welt« machen. Dabei solle das BIP pro Kopf der Bevölkerung von derzeit umgerechnet 19700 US-Dollar auf 35000 Dollar steigen. Dieser Modernisierungsprozeß zielt auf eine Erhöhung der Produktivität der Gesamtwirtschaft um zweihundert Prozent ab. Dabei sei es unabdingbar, daß ineffiziente Arbeitsplätze eliminiert würden, dozierte Putin. Doch die Regierung plane zugleich die Schaffung von 25 Millionen moderner, hochbezahlter Jobs in den Zukunftssektoren binnen der kommenden zehn bis 15 Jahre. Dies sei ein »großes und beängstigendes Vorhaben«, so Putin. Bei 70 Millionen Lohnabhängigen in Rußland würde jeder dritte Arbeitsplatz betroffen sein.

Diese Ziele will der Kreml auch mit Hilfe des Westens erreichen. Angelockt durch ein Privatisierungsprogramm im Volumen von umgerechnet 30 Milliarden US-Dollar, pilgerten Mitte Juni Spitzenvertreter des Kapitals zum diesjährigen Internationalen Ökonomischen Forum nach Sankt Petersburg. Dort mahnte Präsident Dmitri Medwedew den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft an: »Private Unternehmer sollten in der Wirtschaft herrschen«, so Medwedew. Bei der Gelegenheit stellte er sogar die Privatisierung des größten russischen Ölkonzerns Rosneft in Aussicht.

Die konkreten Ergebnisse dieser Strategie fallen indes dürftig aus. Bislang haben nur die russische staatliche Wneschekonombank und die Europäische Investitionsbank ein Memorandum über ein Programm zur bilateralen Kofinanzierung von Modernisierungsprojekten unterzeichnet, in das beide Seiten bis zu 500 Millionen US-Dollar einzahlen sollen.

Putin war beim Forum in St. Petersburg nicht zugegen. Während der Regierungschef der Erneuerung der maroden Wirtschaft ebenfalls oberste Priorität einräumt, setzt er doch andere Akzente. Die »wichtigste Lektion aus der Finanzkrise« bestehe darin, erklärte er bei seiner alljährlichen Parlamentsansprache vor der Duma im vergangenen April, daß Rußland »selbständig und stark genug« bleibe, um »äußerem Druck« widerstehen zu können. Dennoch will auch der Premier den Einruck vermeiden, er befinde sich in einer Konfrontation mit Medwedew. Der staatliche Sender Voice of Russia bemerkte Anfang Juni: »Putin machte klar, daß er die Modernisierung und die Reset-Politik in den Beziehungen zum Westen unterstützt« und daß diese unverändert beibehalten würde, selbst wenn er als Staatspräsident in den Kreml zurückkehren sollte.

* Aus: junge Welt, 30. Juni 2011


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