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Kein Paradies auf Erden

Zwanzig Jahre Marktreformen haben zu Verarmung und Ausverkauf des Landes geführt

Von Soltan Dzarasov *

Die Marktreformen, die vor 20 Jahren eingeleitet wurden, werden in Russland recht unterschiedlich bewertet: Die einen sind glücklich und zufrieden ob eines grenzenlosen Reichtums, den sie gewonnen haben; die anderen beklagen voll Bitternis, dass sie sogar das Wenige, das sie besaßen, verloren haben. In diesen zwei Jahrzehnten entstand eine tiefe Kluft zwischen einer Handvoll Neureicher, die verächtlich auf die anderen herabblicken, und all jenen, die diesen Neureichen wegen ihres eigenen glücklosen Schicksals mit Unmut und Hass begegnen. Soziologischen Forschungen und Umfragen zufolge ist nur ein Fünftel der Bevölkerung Russlands vollauf zufrieden. Die Übrigen differieren zwischen teilweiser und meist gänzlicher Unzufriedenheit.

Die Einleitung der Reformen zu Beginn der 90er Jahre wurde von einem großen propagandistischen Trommelwirbel begleitet. Die Vorteile des Marktes und des Privateigentums wurden viel gelobt, Planwirtschaft und gesellschaftliches Eigentum diffamiert und als Hauptursachen für unsere Nöte und Schwierigkeiten dargestellt. Gewiss, ohne Schocktherapie - freie Preisbildung und zügige Privatisierung - würde es nicht abgehen, aber in Kürze würden wir dann in paradiesischen Zeiten leben, den Wohlstands der entwickelten kapitalistischen Länder erreichen. Man hat uns den Himmel auf Erden vorgegaukelt, ohne zu sagen, dass es sich um die Einführung eines mit beträchtlichen Problemen behafteten Kapitalismus handelt. Wer davon sprechen wollte, der wurde nicht angehört.

Breshnews Orden und Jelzins Luftschlösser

Die Sowjetunion war ein gigantisches, aber isoliertes Land, das eine Vielzahl von Völkern vereinte. Nur wenige Sowjetbürger konnten ins Ausland reisen. Daher war es für die Medien ein Leichtes, den Menschen einzureden, im Westen würden die Menschen glücklich und zufrieden leben. Natürlich litten wir in der Sowjetunion an vielem, u. a. am Mangel an Waren des täglichen Bedarfs und Serviceleistungen, vor allem aber auch am Mangel an Demokratie, an fehlender Meinungs- und Wahlfreiheit. Wir litten unter der Vorherrschaft der Parteibürokratie. Jeder neue Orden, den Partei- und Staatschef Leonid Breshnew erhielt, und der schon nicht mehr auf seiner reich dekorierten Brust Platz fand, erregte Spott, Hohn und Abscheu.

Und dennoch wollten wir nicht zurück zum Kapitalismus, das gesellschaftliche Eigentum nicht durch Privateigentum ersetzen. Wir wollten mehr Demokratie. Selbst innerhalb der regierenden Partei, der KPdSU, bildeten sich verschiedene oppositionelle Gruppierungen heraus; sie fanden mit ihren Forderungen kein Gehör. Auch die Dissidentenbewegung strebte weder danach, den Kapitalismus wiederherzustellen noch das gesellschaftliche Eigentum abzuschaffen und in private Hände zu übereignen. Es ging ihr um Demokratisierung des Landes und Einhaltung der Verfassung, gegen deren Rechte und Freiheiten verstoßen worden war. Wenn Andrej Sacharow von Konvergenz der zwei Systeme sprach, so verstand er darunter, dass die westliche Demokratie mit der sozialistischen Planwirtschaft vereint werden sollte.

Wir haben Gorbatschows Demokratie mit der Losung eines demokratischen Sozialismus begrüßt, denn sie entsprach dem, was wir wollten: Glasnost und freie, demokratische Wahlen. Doch Michail Gorbatschow nominierte in die Staatsführung Leute wie Boris Jelzin, Aleksandr Jakowlew, Arkadij Wolskij und Wiktor Tschernomyrdin, die mit Demokratie nichts im Sinne hatten, sondern es auf Inbesitznahme des Volkseigentums und Restauration des Kapitalismus abgesehen hatten. Dies entsprach aber keinesfalls dem Willen des Volkes.

Wir waren mit vielem in der Sowjetzeit nicht zufrieden. Doch die wichtigsten Bedürfnisse waren gesichert. Jeder hatte Arbeit und Lohn, unentgeltliche Bildung und medizinische Versorgung waren garantiert, es gab Wohnraum zu geringer Miete, niemand wurde fristlos entlassen. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die gewaltigen Reichtümer unseres Landes, die wir gemeinsam und frühere Generationen hart erarbeitet haben, durch Erlasse und mündliche Anordnungen einer einzigen Person im Kreml irgendwelchen Leuten als Privateigentum zugeschanzt wurden.

Dies jedoch wurde zur herben Wirklichkeit. Schützenhilfe leisteten beliebte Schauspieler, die dem Volk versprachen, das Himmelreich auf Erden sei nah. Man wollte glauben machen, dass freie Preisbildung zu Konkurrenz und niedrigeren Preisen führe. Die Übergabe des Eigentums in Privathand würde zur Herausbildung einer verantwortungsvoll und effektiv wirtschaftenden Unternehmerschicht führen. In der Marktwirtschaft würde sich durch Selbstregulierung alles von ganz allein zum Besten fügen. Die Einkommen aller würden steigen, wer will, könne sich ein Haus in Paris oder London, auf den Hawaii-Inseln oder in Florida kaufen. Der Garten Eden wurde prophezeit.

Doch diese Luftschlösser waren alsbald zerstoben. Die Privatisierung des Volkseigentums war von einem nie da gewesenen Niedergang der Produktion begleitet. 1995 war die Produktion fast auf die Hälfte des Standes von 1990 gesunken, die Investitionen betrugen nur noch ein Viertel. Im Ergebnis der Reformen fiel Russland 1998 hinsichtlich des Bruttoinlandsproduktes vom 3. Platz, den es 1989 im internationalen Vergleich eingenommen hatte, auf den 10. Platz. Bis 2008 haben wir es dann immerhin wieder bis auf den 6. Platz geschafft. Nicht etwa wegen der verhängnisvollen Reformen, sondern weil es auf dem Weltmarkt eine Preiserhöhung für die von uns exportierten Roh- und Brennstoffe gegeben hat und sich dadurch der Zustrom von Valutaeinkünften erhöhte. Dieser wurde dem Bruttoinlandsprodukt zugerechnet. Jedoch kann nur ein real erzeugtes gesellschaftliches Produkt Quelle von Wohlstand aller sein. In dieser Hinsicht ist es in Russland sehr schlecht bestellt.

Die eigennützigen Eigentümer

Aus der Privatisierung sind keine effektiv arbeitenden Eigentümer hervorgegangen, wie die Reformer uns vorgegaukelt haben, sondern Betrüger und Verschwender, die nur an ihrer eigenen Bereicherung interessiert sind. Dies gelang ihnen vor allem in der Roh- und Brennstoffindustrie, in der Erdöl- und Gasförderung, wo allzu große Investitionen nicht nötig, aber Riesenprofite durch den Absatz ins Ausland möglich waren. Über die neuen Eigentümer ist ein Goldregen niedergegangen. In der verarbeitenden Industrie hingegen waren große Investitionen zwecks technischer Modernisierung unumgänglich. Da die neuen Eigentümer dies nicht riskieren wollten, wurden die Betriebe einfach verkauft. Unweit von meiner Wohnung in Moskau gab es früher einen Großbetrieb des Werkzeugmaschinenbaus mit hoch qualifizierten Arbeitern, einer verzweigten Infrastruktur, Konstruktionsbüros, einem wissenschaftlichen Forschungsinstitut etc. Er wurde privatisiert; anschließend wurden die wertvollen Anlagen als Metallschrott verkauft. In den Gebäuden befinden sich jetzt Geschäfte, ein Café und ein Konzertsaal. Heute kauft man billig gebrauchte Werkzeugmaschinen im Ausland ein. Was für eine Schizophrenie!

Das Fiasko des neoliberalen Reformkurses ist so offensichtlich, dass man dafür eine Rechtfertigung suchen musste. Und da fiel der Führung Russlands nichts Besseres ein, als das Land zur »energetischen Großmacht« zu erklären. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass unsere nationalen Ressourcen den Bedürfnissen anderer Staaten untergeordnet werden und unser Schicksal von der Gnade der Brenn- und Rohstoffkäufer abhängt. Statt die Wirtschaft auf Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und Modernisierung zu orientieren, wurden Pipelines zu den größten Bauvorhaben erklärt. Erdöl und Gas werden in andere Länder geleitet, und wir leben von den Einkünften aus dem Verkauf unserer Naturreichtümer. Soll das so weitergehen? Das wäre kein beneidenswertes Schicksal. Dies umso mehr nicht, als die Einkünfte vom Verkauf der natürlichen Ressourcen nur teilweise nach Russland gelangen; der Löwenanteil verbleibt im Ausland. Das ist der Grund für den akuten Engpass bei den Investitionen für die Entwicklung der eigenen Industrie. Zugleich lassen die Spitzen unseres Staates keine Gelegenheit ungenutzt, um die Anziehungskraft Russlands für ausländische Investitionen zu preisen. Das aber wirft zugleich die Frage auf, warum unser Kapital ins Ausland flieht.

Die fehlenden Investitionen sind nur eine Seite der Misere im heutigen Russland. Die andere besteht darin, dass niemand an der Modernisierung der Wirtschaft interessiert ist und diese in die Hand nehmen will, schon gar nicht die aus krimineller Privatisierung hervorgegangenen neuen Eigentümer. Vor einem britischen Gericht streiten sich derzeit zwei russische Oligarchen, Boris Beresowskij und Roman Abramowitsch, um etwa fünfeinhalb Milliarden US-Dollar. Keiner von beiden hat auch nur einen einzigen Cent seines Vermögens selbst erarbeitet. Sie gehörten zur »großen Familie« des früheren Präsidenten der Russischen Föderation Boris Jelzin. Die Geschichte kennt keine Autokraten, die ihre engen Vertrauten für nichts und wieder nichts derart beschenkten wie der »demokratische« Regierungschef Russlands. Er hat auch den Boden für die Rückkehr einer Monarchie bereitet. Jelzin reichte das Zepter an Wladimir Putin weiter und dieser an Dmitrij Medwedew, der sich anschickt, die Insignien der Macht nächstes Jahr an seinen Vorgänger zurückzugeben. Doch das scheint nicht so glatt zu gehen, wie man es sich vorstellte.

Ein sichtbares Zeichen des Volkes

Die Wahlen jüngst, die Putins Partei »Einiges Russland« einen unglaublichen Sieg gebracht haben sollen, führten zu Massenprotesten, den machtvollsten in den letzten 20 Jahren. Die Bürger artikulierten ihren Protest friedlich. Das Volk hat den Regierenden zum ersten Mal seit 1990 ein sichtbares Zeichen gegeben, dass es nicht gewillt ist, länger Willkür und Not schweigend zu dulden. Wenn dieses Zeichen nicht wahrgenommen wird und die Regierenden nicht in der Lage sind, Lehren aus der Reaktion des Volkes zu ziehen, so könnte es sein, dass für uns schwerere Zeiten anbrechen werden, obgleich viele von uns schon gehofft hatten, diese würden hinter uns liegen. Man kann nur wünschen, sie hätten Recht.

* Professor Dr. oec. habil. Soltan Dzarasov arbeitet am Institut für Ökonomie der Akademie der Wissenschaften Russlands. Seinen Beitrag, der auf einem längeren Referat basiert, das er auf einer internationalen Konferenz Anfang November in Moskau hielt, übersetzte Ruth Stoljarowa.

Aus: neues deutschland, 17. Dezember 2011



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