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Geht die "Schneerevolution" zu Ende?

Unterschiedliche Ansichten über die Perspektiven der russischen Protestbewegung

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die vorerst wohl letzte große Protestkundgebung nach den Präsidentenwahlen in Russland brachte am Wochenende in Moskau zwischen 10- und 25 000 Menschen auf die Beine.

Die Moskauer Stadtregierung dementierte: Es gebe keinerlei Absichten, das geltende Demonstrationsgesetz zu ändern. Doch ohne Rauch kein Feuer und Sergej Udalzow, Chef der Linken Front, die zu den Organisatoren der Massenproteste gehört, warnte die Stadtoberen bereits, sie seien auf dem besten Weg, einen »besonders dummen Fehler« zu begehen. Einschränkungen der Versammlungsfreiheit würden nur dazu führen, dass die Menschen ihrem Unmut über manipulierte Wahlen und innenpolitische Daumenschrauben spontan Luft machen.

Am vergangenen Sonnabend waren es nach offiziellen Angaben allerdings nur noch rund 8000, die Organisatoren sprachen allerdings von 25 000. Und selbst prominente Oppositionelle wie der Schriftsteller Boris Akunin gaben zu bedenken, die Euphorie angesichts der Massenproteste nach den Parlamentswahlen im Dezember sei unangebracht gewesen, der Weg zu realen Veränderungen des politischen Systems in Russland werde lang und steinig sein.

Experten versuchen derweil zu ergründen, warum die vom Westen voreilig zur »Schneerevolution« hochgelobten Proteste vorerst verebben. Zwischen Massen und Akteuren auf der Tribüne klaffen Welten, glaubt Swjatoslaw Kaspé, Herausgeber des kritischen Magazins »Politia«. Sie hätten ein unterschiedliches Politikverständnis, vor allem das verhindere bisher auch einen Konsens über Strategie und Forderungskatalog. Zwar sei Putins Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahlen am 4. März umstritten. Mit dem Ende des Wahlkampfs aber schließe sich das Zeitfenster für die flächendeckende Mobilisierung Unzufriedener. Zwar werde die Tribüne versuchen, den vermuteten Wahlbetrug maximal zu strapazieren, dennoch sei es eine bloße Frage der Zeit, wann den Massenprotesten der Atem ausgeht. Bereits bei den Protesten am Tag nach der Wahl, als weniger als erwartet kamen, seien Müdigkeit und Erschöpfung nicht mehr zu übersehen gewesen. Die dort erneut erhobene Forderung nach Wahlwiederholung sei mangels juristischer Grundlage nicht realistisch und klare, mehrheitsfähige Losungen für die Zeit nach der Wahl seien nicht vorhanden.

Auch würden Anleihen bei Showgeschäft und Karneval, von denen sich die Organisatoren Zulauf versprachen, viele eher abstoßen. Vor allem Ältere und Intellektuelle zweifeln am Nutzen von Meetings und Demonstrationen, sie verlangen andere Formen des Protests. Welche genau, vermögen sie jedoch so wenig zu sagen wie die Organisatoren.

Nach wie vor fehlt den Protesten die soziale Basis. Schon die liberalen Parteien taten sich in Russland stets schwer damit, ihr - berechtigtes - Eintreten für Demokratie und Menschenrechte mit Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Sie wurden dafür vom Wähler mehrfach bestraft. Besserverdienende Großstädter - Motor der Proteste - tappen in die gleichen Fallen. Zumal mangels Alternativen als anerkannter Führer derzeit nur Multimilliardär Michail Prochorow - also ein Verfechter des Turbo-Kapitalismus - in Frage kommt. Ohne Führer mit klaren Mehrheiten indes misslingen auch Konsolidierung und Strukturierung der Protestbewegung und damit der Quantensprung von einer bloßen Menge zur politischen Kraft.

* Aus: neues deutschland, 13. März 2012


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