Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Viele Gemeinsamkeiten trotz Divergenzen

Deutsch-russische Regierungskonsultationen in St. Petersburg

Do, 02.10.2008

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Dmitri Medwedew wollen insbesondere auf dem Energiesektor und in der Gesundheitsversorgung enger zusammen arbeiten. Darauf verständigten sie sich bei den deutsch-russischen Regierungskonsultationen in St. Petersburg. Aber auch die Finanzmarktkrise und vor allem die Entwicklung im Kaukasus waren Thema der Gespräche.


Begleitet zu den zehnten deutsch-russischen Konsultationen wurde die Kanzlerin von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und weiteren Kabinettsmitgliedern. Auch eine hochrangige Wirtschaftsdelegation war mit an Bord.

Potenzial für weitere Kooperationen

Es waren die ersten Regierungskonsultationen mit Präsident Medwedew und seiner neuen Regierung. Beide Regierungschefs sprachen unter anderem über die Schaffung einer russischen Energieeffizienzagentur. "Ich glaube, wir können hier viel voneinander lernen und miteinander schaffen", sagte die Kanzlerin. Deutschland sei schließlich nicht besonders reich an Rohstoffen, verfüge jedoch über attraktive Technologien, um natürliche Ressourcen nutzbar zu machen. Hier bestehe noch erhebliches Potenzial für künftige Kooperationen.

So schlossen am Rande der Regierungsgespräche der Energiekonzern Gazprom und der deutsche Energieversorger Eon ein Kooperationsabkommen. Mit dem Aktientausch beteiligt sich der deutsche Konzern an der Gasförderung über die Nord-Stream-Pipeline. Gazprom erhält im Gegenzug Aktien an einer Eon-Tochtergesellschaft.


Deutschland ist der wichtigste Handelspartner Russlands. 2007 stieg das Handelsvolumen um 6,7 Prozent auf rund 57 Milliarden Euro. Deutsche Exporte wuchsen im vergangenen Jahr um 20 Prozent auf 28,2 Milliarden Euro. Die notwendige Modernisierung der russischen Infrastruktur bietet gute Chancen für deutsche Unternehmen, zum Beispiel in der Energiewirtschaft und im Eisenbahnmarkt. In Russland sind rund 4.600 deutsche Unternehmen aktiv.



Voneinander Erkenntnisse gewinnen

Die Gesundheitsministerinnen beider Länder unterzeichneten in St. Petersburg eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. "Das Aktionsprogramm ist eine gute Grundlage, um etwa gegen Infektionskrankheiten gemeinsam vorzugehen", befand Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Dabei analysieren Ärzte beider Länder zum Beispiel die Wechselwirkungen von Medikamenten bei gleichzeitiger Infektion mit HIV/Aids und Tuberkulose. Voneinander gewinnen sie so Erkenntnisse, um ihre Behandlungsmethoden zu optimieren.

Auch wenn die wirtschaftlichen Themen im Vordergrund standen, kam bei den Konsultationen die ganze Bandbreite der Beziehungen zur Sprache. So nahmen die Entwicklung der internationalen Finanzmärkte und die Lage in Georgien breiten Raum ein. Dabei ging es darum, im offenen Gespräch nicht nur Meinungsverschiedenheiten anzusprechen, sondern auch gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen.

Vertrauen schaffen

Mit Blick auf den Kaukasuskonflikt bekräftigte Merkel die europäische Position, dass die russische Reaktion auf die Ereignisse in Georgien nicht angemessen gewesen sei. "Die territoriale Integrität Georgiens ist nicht verhandelbar", sagte Merkel. Jetzt gelte es, den von den Konfliktparteien akzeptierten 6-Punkte-Plan Schritt für Schritt umzusetzen.

Natürlich müsse auch zur Sprache kommen, was tatsächlich hinter dem Konflikt stehe. Dabei spiele die Geschichte nach 1990 eine wichtige Rolle, so Merkel. In diesem Zusammenhang erinnerte die Kanzlerin mit Dankbarkeit an die Rolle Russlands bei der deutschen Wiedervereinigung zu jener Zeit. Diese sei nur möglich gewesen, "weil es Vertrauen zwischen Kohl und Gorbatschow gab", zeigte sie sich überzeugt.

Jetzt müsse man fragen, was es für Russland bedeute, dass die Sowjetunion zerfallen ist. Und was es bedeute, dass auch die mittel- und osteuropäischen Länder heute zu Bündnissen gehörten, die vielleicht in Russland als Bündnisse der Zeit des Kalten Krieges angesehen werden. Heute laute daher eine wichtige Frage: Welches ist die Rolle Russlands in der Region nach dem Zerfall der Sowjetunion? Diese ganzen Fragen müssten "auf den Tisch", um letztlich die Konflikte in der Region lösen zu können.

Menschliche Kontakte verbinden Völker

Als ein Forum für diese Fragen sah die Kanzlerin den Petersburger Dialog an. Er fand auch dieses Mal neben den Regierungskonsultationen statt. Bei diesem Dialogforum diskutieren nicht nur Politikerinnen und Politiker. Tonangebend sind vielmehr Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaften beider Länder.

Merkel, die gemeinsam mit Medwedew am Abschlusßforum teilnahm, betonte, dass es ist richtig und wichtig sei, dass man auch über kritische Themen sprechen könne. "Das wird auch bei der jetzigen Begegnung unumgänglich sein", fügte sie hinzu.

Besonders beeindruckt zeigte sich die Kanzlerin von zwei Vertretern des Jugendparlaments, die sichtlich nervös die Ergebnisse ihrer Diskussionen den Regierungschefs vortrugen. Zwar seien sie manchmal unterschiedlicher Meinung, so sagten sie, aber ihre Freundschaft würde das überdauern. Das hörte die Kanzlerin gerne.


Der Petersburger Dialog wurde als offenes Diskussionsforum 2001 ins Leben gerufen. Die Begegnungen finden einmal jährlich abwechselnd in Deutschland und Russland statt. Die Verständigung zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder soll dadurch gefördert werden, die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit vertieft und ausgebaut werden.

Der Petersburger Dialog steht unter der Schirmherrschaft des jeweils amtierenden deutschen Bundeskanzlers und des jeweils amtierenden russischen Präsidenten. An der Spitze stehen auf deutscher Seite Lothar de Maizière und auf russischer Seite Michael Gorbatschow. Der Dialog stellt die deutsch-russische Kooperation auf eine breite Grundlage.



* Quelle: Website der Bundesregierung; www.bundesregierung.de


Routine in außergewöhnlichen Zeiten

Von Dr. Raimund Krämer **

Wenn sich die führenden Politiker von zwei Staaten treffen, dann ist das zunächst eine bilaterale Angelegenheit. Und wenn sie dies in regelmäßiger Folge tun, dann spricht man von Normalität, und die internationalen Medien nehmen davon kaum Notiz. Wenn es zwei große, einflussreiche Staaten sind, dann wächst das Interesse schon merklich an; wenn dann dieses Treffen in stürmischen Zeit erfolgt, schaut die Welt hin.

In St. Petersburg haben sich am 2. Oktober die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Dmitri Medwedew im Rahmen der deutsch-russischen Konsultationen getroffen; es war das 10. Treffen dieser Art. Jeder weiß, wo die Interessen der jeweiligen Seite liegen, man kann es auf die Formel russische Energie gegen deutsche Technologie reduzieren. Dazu ein wenig Kulturaustausch und Kontakte zwischen der „Zivilgesellschaft“ - und rund ist ein solches Treffen.

Hinzu kommt, dass das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Politikern recht normal erscheint. Was einst „Männerfreundschaften“, gemeinsame Saunabesuche eingeschlossen, für ein direktes und offenes Gespräch bedeuteten, das kompensiert die Kanzlerin durch eigene gute Kenntnisse der russischen Sprache und Kultur. So manche kritische Anmerkung erklärt sich eher aus dem Blickwinkel heimischer, deutscher Politik.

Zugleich steht sie aber in harter Konkurrenz zu ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der ja zugleich als Kanzler-Kandidat der SPD im kommenden Jahr ihr schärfster Konkurrent sein wird. Steinmeier will sich gerade in seiner Politik gegenüber Russland (wie auch gegenüber China) von der Kanzlerin absetzen. Sein Konzept von der „deutsch-russischen Modernisierungspartnerschaft“, das er in seiner Rede an der Ural-Universität in Jekaterinburg im Mai dieses Jahres entwickelte, ist Teil dieser außenpolitischen Profilierung.

Was dieses Treffen aber so interessant, ja man kann sagen, bedeutungsvoll macht, ist der Zeitpunkt. Diese routinemäßige Begegnung russischer und deutscher Spitzenpolitiker, die abschließend ausdrücklich „den Dialog“ bekräftigt, fand in einer Zeit statt, in der manche Politiker und Medienmacher schon den Beginn eines „neuen Kalten Krieges“ ausgerufen hatten. Nach den kriegerischen Ereignissen in Georgien schwappte über Deutschland eine Welle der Russophobie.

Der russische Bär war zurück und wollte in einer neo-imperialen Rückwärtsrolle die Sowjetunion oder zumindest das Zarenreich wieder herstellen. So manche Formulierung erinnerte an die „Flinten-Rede“ von August Bebel aus dem Jahre 1907, als der alte Sozialdemokrat verkündete, er wäre bereit, sich das Gewehr noch einmal über die Schulter zu hängen, wenn es um den Kampf gegen den russischen Zarismus ginge. Die chronologische Abfolge der kriegerischen Handlungen oder geopolitische und wirtschaftliche Interessen in diesem Raum, sei es der USA oder der Europäischen Union, spielte bei der Bewertung des „Georgien-Krieges“ keine Rolle.

In einem solchen, schon feindlich zu nennenden medialen Kontext reiste die Kanzlerin nun nach St Petersburg. Und bereits das war eine deutliche Botschaft angesichts abgesagter Treffen zwischen der NATO und Russland. Und wenn im Ergebnis der Gespräche erklärt wird, die Kontakte zwischen Moskau und Berlin würden keinen „politischen Konjunkturen“ unterliegen, dann sagt dies klipp und klar: Wir wollen stabile Beziehungen, nicht nur wirtschaftliche, und wir lassen uns da von keinem in die Suppe spucken, auch nicht von den USA. Im Gegenteil! Die Beziehungen seien - trotz unterschiedlicher Sichten in einzelnen Fragen - „ein Faktor der Stabilität im gesamten euro-atlantischen Raum“, so in der Erklärung vom 2. Oktober.

Und damit kommen wir zum zweiten Punkt, der so außergewöhnlich ist und das routinemäßige Treffen an Bedeutung gewinnen lässt: die aktuelle Krise, die in den USA das Finanzsystem tief greifend erschüttert und mittlerweile auch in Europa zu katastrophalen Konsequenzen führt. Niemand kennt das Ende, aber allen ist bewusst, dass sich hier grundlegende Veränderungen des kapitalistischen Finanzsystems vollziehen, trotz des 700-Mrd.-Dollar-Rettungspaketes in den USA. Und diese werden auch die Stellung der übrig gebliebenen Supermacht erschüttern.

Die eher als proamerikanisch geltende Kanzlerin reagierte mit geradezu schroffer Ablehnung, als die USA eine finanzielle Beteiligung bei den „Hilfsmaßnahmen“ anmahnten. Der Absage von SPD-Kanzler Schröder, als es um die Beteiligung am Irak-Krieg ging, folgte nun die CDU-Kanzlerin in einer nicht weniger bedeutsamen Frage. Außenminister Steinmeier hatte in seiner Rede in Jekaterinburg von „neuen politischen Kraftzentren“ gesprochen, die sich weltweit herausbilden und die die „Gewichte in der Welt verschieben“. Das spüren wir in diesen Tagen: Das Ende der kurzen Phase der Unipolarität, als die USA militärisch, wirtschaftlich und auch finanziell dominierten und deren Propheten aus der Wissenschaft landauf, landab das „neue Empire“ predigten, das nun zusammen mit dem „Ende der Geschichte“ kommen würde.

Die Geschichte ist weiter gegangen, auch die der internationalen Politik. Viele Träume, auch der vom Empire, das eine „neue Weltordnung“ schaffe, sind seit dem ausgeträumt. Die USA sind mit dieser Finanzkrise stark angeschlagen; der Irak ist ein neues Vietnam. Gewiss wird es nicht zum Untergang des „neuen Roms“ kommen. Aber die Partner im transatlantischen Raum, und hier vor allem Deutschland, zeigen, dass sie die Welt anders sehen. In einer multipolaren Welt haben sie eigene Interessen und diese setzen sie auch politisch durch, so zum Beispiel bei einem routinemäßigen Treffen mit Russlands Präsidenten in St. Petersburg.

** Zum Autor: Dr. Raimund Krämer ist Chefredakteur der außenpolitischen Zeitschrift „WeltTrends“

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 3. Oktober 2008; http://de.rian.ru



"Breite Palette von Gemeinsamkeiten"

Kanzlerin Merkel und Präsident Medwedjew betonten Willen zum deutschrussischen Dialog ***

Trotz Meinungsverschiedenheiten bei der Georgien-Krise haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsident Dmitri Medwedjew ihren Willen zum Dialog bekräftigt.

Es gebe eine »breite Palette von Gemeinsamkeiten in der Zusammenarbeit«, sagte Merkel nach den ersten deutsch-russischen Regierungskonsultationen seit dem Kaukasus-Konflikt. In der Georgien-Krise seien Deutschland und Russland »durch die Gespräche zumindest ein Stück voran gekommen«, so die Kanzlerin auf der Pressekonferenz in St. Petersburg. Es gebe Fortschritte bei der Umsetzung des Sechs-Punkte-Plans, der unter anderem einen Rückzug russischer Truppen aus Georgien vorsieht. Gleichzeitig gebe es aber noch »Divergenzen, die nicht ausgeräumt« seien, erklärte Merkel mit Blick auf den Status der beiden abtrünnigen georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien. Russland hatte Ende August die Unabhängigkeit beider Regionen anerkannt.

Merkel sprach sich in St. Petersburg auch gegen eine Ernennung Georgiens zum offiziellen Beitrittskandidaten der NATO zum jetzigen Zeitpunkt aus. Eine Aufnahme des Landes in den sogenannten Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP) sei verfrüht. Gleiches gelte für die Ukraine. Auf dem Treffen der NATO-Außenminister im Dezember werde nur eine erste Bewertung des Weges beider Länder zum MAP erfolgen. Die NATO hatte der Ukraine und Georgien im April symbolisch eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, sich aber gegen die Aufnahme in den Aktionsplan zur Vorbereitung der Mitgliedschaft entschieden.

Die Bundesregierung kündigte Hilfen in Höhe von 610 000 Euro für Kinder in Georgien an. Die Gelder sollten an zwei UNICEF-Projekte gehen, die minderjährigen Opfern des Kaukasus-Konflikts helfen, teilte das Auswärtige Amt mit.

Neben dem Kaukasus-Konflikt war auch die internationale Finanzkrise ein wichtiges Thema der deutsch-russischen Konsultationen. Beide Länder seien sich einig, dass die Finanzmärkte Regeln bräuchten und diese auch umgesetzt werden müssten, sagte Merkel. In diesem Bereich sei sie der Auffassung, dass die Kooperation mit Russland sehr gut funktionieren werde. Zuvor hatte sie während des St. Petersburger Dialogs bereits hervorgehoben, dass die internationale Gemeinschaft nun nicht von »totaler privater Freiheit in völlige Staatlichkeit« verfallen dürfe. Dies sei eine »sehr schwierige Gratwanderung«.

Medwedjew nannte das heutige Finanzsystem unangemessen. Es seien fehlerhafte Entscheidungen getroffen worden – auch in den USA –, für die jetzt alle bezahlen müssten. Zudem sei deutlich geworden, dass keine Wirtschaft, so mächtig sie auch sei, die Rolle eines »Mega-Reglers« übernehmen könne. Die Zeiten der Dominanz einer Währung seien vorbei.

*** Aus: Neues Deutschland, 4. Oktober 2008


Zurück zur Russland-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zurück zur Homepage