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"Wir sind das Opfer der Aggression"

Dokumentiert. Das ARD-Interview mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin vom 29.8.2008 im vollen Wortlaut *

Am vergangenen Freitag (29. August) sendete die ARD im Spätprogramm ein Interview ihres Rußland-Korrespondenten Thomas Roth mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin. Gegenstand war die jüngste Krise im Kaukasus. Nach der Ausstrahlung meldeten sich zahlreiche Kritiker zu Wort, die der Rundfunkanstalt vorwarfen, das Gespräch sinnentstellend gekürzt zu haben, was einer Zensur gleichkomme. Im folgenden dokumentieren wir das im Internet veröffentlichte Interview (putin-ard.blogspot.com) im Wortlaut - kursiv gesetzt sind die Passagen, die den ARD-Kürzungen zum Opfer fielen.
Seit dem 2. September war das vollständige Interview auf www.tagesschau.de ebenfalls zu lesen.



Thomas Roth: Herr Ministerpräsident, nach der Eskalation in Georgien sieht das Bild in der internationalen Öffentlichkeit so aus - damit meine ich Politik, aber auch Presse: Rußland gegen den Rest der Welt. Warum haben Sie Ihr Land mit Gewalt in diese Situation getrieben?

Wladimir Putin: Was meinen Sie, wer hat den Krieg begonnen?

Roth: Der letzte Auslöser war der georgische Angriff auf Tschinwali.

Wladimir Putin: Ich danke Ihnen für diese Antwort. So ist es auch, das ist die Wahrheit. Wir werden dieses Thema später ausführlicher erörtern. Ich möchte nur anmerken, daß wir diese Situation nicht herbeigeführt haben.


Ich bin überzeugt, daß das Ansehen eines jeden Landes, das imstande ist, das Leben und die Würde der Bürger zu verteidigen, eines Landes, das eine unabhängige Außenpolitik betreiben kann, daß das Ansehen eines solchen Landes mittel- oder langfristig steigen wird. Umgekehrt: Das Ansehen der Länder, die in der Regel die Interessen anderer Staaten bedienen, die die eigenen nationalen Interessen vernachlässigen - unabhängig davon, wie sie das auch erklären mögen -, wird sinken.

Roth: Sie haben die Frage trotzdem noch nicht beantwortet, warum Sie die Isolation ihres ganzen Landes riskiert haben ...

Putin: Ich dachte, geantwortet zu haben, aber wenn Sie zusätzliche Erklärungen brauchen, das mache ich. Unser Land, das die Würde und den Stolz unserer Bürger verteidigen kann und die außenpolitischen Verpflichtungen im Rahmen der Friedensstiftung erfüllen kann, wird nicht in Isolation geraten, ungeachtet dessen, was unsere Partner in Europa und den USA im Rahmen ihres Blockdenkens sagen. Mit Europa und den USA endet die Welt nicht. Und im Gegenteil, ich möchte es noch mal betonen: Wenn Staaten ihre eigenen nationalen Interessen vernachlässigen, um außenpolitische Interessen anderer Staaten zu bedienen, dann wird die Autorität dieser Länder - unabhängig davon, wie sie das auch erklären mögen -, nach und nach sinken. D. h. wenn die europäischen Staaten die außenpolitischen Interessen der USA bedienen wollen, dann werden sie, aus meiner Sicht, nichts dabei gewinnen.

Jetzt reden wir mal über unsere internationalen rechtlichen Verpflichtungen. Nach internationalen Verträgen haben die russischen Friedensstifter die Pflicht, die zivile Bevölkerung von Südossetien zu verteidigen. Und jetzt denken wir mal an 1995 (Bosnien). Und wie ich und Sie gut wissen, haben sich die europäischen Friedensstifter, in dem Fall repräsentiert durch niederländische Streitkräfte, nicht in den Konflikt eingemischt und haben einer Seite damit erlaubt, einen ganzen Ort zu vernichten. Hunderte wurden getötet und verletzt. Das Problem und die Tragödie von Srebrenica ist in Europa sehr bekannt. Wollten Sie, daß wir auch so verfahren? Daß wir uns zurückgezogen hätten und den georgischen Streitkräften erlaubt hätten, die in Tschinwali lebende Bevölkerung zu vernichten?


Roth: Herr Ministerpräsident, Kritiker sagen, Ihr eigentliches Kriegsziel war gar nicht, nur die südossetische Bevölkerung - aus Ihrer Sicht - zu schützen, sondern zu versuchen, den georgischen Präsidenten aus dem Amt zu treiben, um den Beitritt Georgiens über kurz oder lang zur NATO zu verhindern. Ist das so?

Putin: Das stimmt nicht, das ist eine Verdrehung der Tatsachen, das ist eine Lüge. Wenn das unser Ziel gewesen wäre, hätten wir vielleicht den Konflikt begonnen. Aber, wie Sie selbst sagten, das hat Georgien gemacht. Jetzt gestatte ich mir, an die Tatsachen zu erinnern. Nach der nicht legitimen Anerkennung des Kosovo haben alle erwartet, daß wir Südossetien und Abchasien anerkennen. Alle haben darauf gewartet, und wir hatten ein moralisches Recht dazu. Wir haben uns mehr als zurückgehalten. Ich will das auch nicht kommentieren. Ja, mehr noch, wir haben das geschluckt. Und was haben wir bekommen? Eine Eskalation des Konfliktes. Überfall auf unsere Friedensstifter. Überfall und Vernichtung der friedlichen Bevölkerung in Südossetien. Das sind Tatsachen, die angesprochen wurden. Der französische Außenminister war in Nordossetien und hat sich mit Flüchtlingen getroffen. Die Augenzeugen berichten, daß die georgischen Streitkräfte mit Panzern Frauen und Kinder überfahren haben, die Leute in die Häuser getrieben und lebendig verbrannt haben. Georgische Soldaten haben, als sie nach Tschinwali kamen, - so im Vorbeigehen - Granaten in die Keller und Bunker geworfen, wo Frauen und Kinder sich versteckt hatten. Wie kann man so etwas anders nennen als Genozid?

Und jetzt zur Regierung in Georgien.
Das sind die Menschen, die ihr Land in die Katastrophe getrieben haben, die georgische Führung hat das mit eigenen Aktionen gemacht, die Staatlichkeit des eigenen Landes torpediert. Solche Menschen sollten keinen Staat führen, ob groß oder klein. Wären sie anständige Personen, sollten sie unbedingt zurücktreten.

Roth: Das ist jedoch nicht Ihre Entscheidung, sondern die der georgischen Regierung.

Putin: Natürlich, jedoch kennen wir auch Präzedenzfälle, die einen anderen Charakter haben. Ich erinnere nur an die amerikanische Invasion des Irak und daran, was sie mit Saddam Hussein gemacht haben, weil dieser ein paar schiitische Dörfer vernichtet hatte. Und hier wurden in den ersten Stunden der Kampfhandlungen auf südossetischem Territorium zehn ossetische Dörfer ausradiert.

Roth: Herr Ministerpräsident, sehen Sie sich denn im Recht, in das Territorium eines souveränen Staates, nämlich Georgien, vorzudringen und dort Bombardierungen durchzuführen? Ich selbst sitze hier nur aus purem Zufall mit Ihnen, da buchstäblich einige Meter von mir eine Bombe explodiert ist, die aus einem Ihrer Flugzeuge abgeworfen wurde. [Roth hielt sich Anfang August im Kriegsgebiet auf - d. Red.] Gibt Ihnen das aus völkerrechtlicher Sicht das Recht ...

Putin: Wir haben uns absolut im Rahmen des Völkerrechts bewegt. Wir haben den Angriff auf unsere Friedensstifter, auf unsere Bürger als einen Angriff auf Rußland aufgefaßt. In den ersten Stunden der Kampfhandlungen töteten die georgischen Streitkräfte mehrere Dutzend unserer Blauhelmsoldaten. Sie haben unseren südlichen Posten - es gab einen südlichen und einen nördlichen - mit Panzern eingekreist und direkt beschossen. Als unsere Blauhelmsoldaten die Technik aus einem Hangar holen wollten, wurde ein Schlag mit dem Artilleriesystem »Grad« ausgeführt. Zehn Leute, die in diesen Hangar reingingen, wurden auf der Stelle getötet. Danach hat die georgische Luftwaffe Luftschläge in verschiedenen Punkten in Südossetien durchgeführt. Nicht in Tschinwali, sondern inmitten von Südossetien. Und wir sahen uns gezwungen, die Verwaltungspunkte der georgischen Streitkräfte, die sich außerhalb der Konfliktzone befanden, unschädlich zu machen. Das waren solche Punkte, von wo aus die Artillerieschläge und die Luftangriffe auf russische Blauhelme koordiniert und ausgeführt wurden.

Roth: Ich hatte ja gesagt, daß auch die Bombardierung der Zivilbevölkerung stattgefunden hat. Sie haben womöglich nicht alle Informationen.

Putin: Ich verfüge möglicherweise nicht über alle Informationen. Im Zuge der Kampfhandlungen sind Fehler möglich. Jetzt gerade hat die amerikanische Luftwaffe in Afghanistan einen Schlag gegen die Taliban durchgeführt und fast 100 Zivilisten getötet. Das ist die erste Möglichkeit. Die zweite, die wahrscheinlicher ist: die Verwaltungspunkte der georgischen Artillerie, der Luftwaffe und Radarstationen wurden mutwillig mitten in den Wohngebieten plaziert, damit die Wahrscheinlichkeit der Luftschläge gegen diese minimiert wird. Sie haben die Zivilbevölkerung und Sie als Geiseln benutzt.


Roth: Das ist eine Mutmaßung. Der französische Außenminister Kouchner hat viele Sorgen geäußert in den letzten Tagen, als Minister der Ratspräsidentschaft. Er hat auch die Sorge geäußert, daß der nächste Konfliktherd um die Ukraine beginnt, nämlich um die Krim, um die Stadt Sewastopol. Ist die Krim das nächste Ziel, der Sitz der Schwarzmeerflotte?

Putin: Sie sagten, »das nächste Ziel«. Wir haben auch hier kein Ziel gehabt. Deshalb ist es nicht korrekt, so zu reden. Und, wenn Sie gestatten, dann bekommen Sie eine zufriedenstellende Antwort: Die Krim ist kein kritisches Territorium, da hat es keinen ethnischen Konflikt gegeben, im Unterschied zum Konflikt zwischen Südossetien und Georgien. Und Rußland hat längst die Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt. Im Grunde genommen haben wir die Grenzverhandlungen abgeschlossen. Da bleiben nur Demarkationsangelegenheiten, das ist eine technische Angelegenheit. Und eine solche Frage riecht nach Provokation. Da gibt es innerhalb der Krim komplizierte Prozesse, Krim-Tataren, ukrainische Bevölkerung, russische Bevölkerung, also slawische Bevölkerung. Das ist aber ein internes Problem der Ukraine. Es gibt einen Vertrag über die Flotte bis 2017.

Roth: Wo stehen wir? Ist es nur eine Eiszeit, ist es schon ein kalter Krieg, hat das Wettrüsten schon begonnen oder schließen Sie alles aus?

Putin: Rußland strebt keinerlei Verschiebungen an, keinerlei Spannungen. Obwohl auch das sein kann. Wir wollen gutnachbarschaftliche, partnerschaftliche Beziehungen unterhalten. Wenn Sie erlauben, dann sage ich, was ich darüber denke. Es gab die Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Und es gab die sowjetischen Streitkräfte in der DDR, und man muß es ehrlich zugestehen, das waren Okkupationskräfte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland geblieben sind unter dem Deckmantel der Koalitionsstreitkräfte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion, des Warschauer Paktes sind diese Okkupationskräfte weg. Die Gefahr von seiten der Sowjetunion ist weg. Die NATO aber, die amerikanischen Streitkräfte in Europa sind immer noch da. Wofür?

Um Ordnung und Disziplin in den eignen Reihen zu halten, um alle Koalitionspartner innerhalb eines Blocks zu halten, braucht man eine außenstehende Gefahr. Und Iran ist da nicht ganz passend für diese Rolle. Man will daher einen Gegner wiederauferstehen lassen, und dieser soll Rußland sein. In Europa jedoch fürchtet uns niemand mehr.


Roth: Die Europäische Union in Brüssel wird über Rußland reden. Es wird wohl auch über Sanktionen gegen Rußland zumindest geredet werden, möglicherweise werden sie beschlossen. Macht Ihnen das irgendeine Art von Sorge oder ist Ihnen das egal, weil Sie sagen, die Europäer finden sowieso nicht zu einer Stimme?

Putin: Würde ich sagen, wir pfeifen drauf, es ist uns egal, würde ich lügen. Natürlich verfolgen wir alles sehr aufmerksam. Wir hoffen, daß der gesunde Menschenverstand triumphieren wird, und wir glauben, daß eine nicht politisierte, sondern objektive Einschätzung der Ereignisse gegeben wird. Wir hoffen auch, daß die Aktionen der russischen Friedensstifter unterstützt werden und die Aktionen der georgischen Seite, die diese verbrecherische Aktion durchgeführt hatte, sanktioniert werden.

Roth: Herr Ministerpräsident, müssen Sie sich in Wirklichkeit nicht entscheiden? Sie wollen auf der einen Seite auf eine intensive Zusammenarbeit mit Europa nicht verzichten, Sie können es meines Erachtens wirtschaftlich auch gar nicht, andererseits wollen Sie trotzdem nach eigenen russischen Spielregeln spielen. Also auf der einen Seite ein Europa der gemeinsamen Werte, die Sie auch teilen müssen, andererseits spielen Sie nach russischen Spielregeln. Beides zusammen geht aber nicht ...

Putin: Wir wollen nicht nach irgendwelchen besonderen Spielregeln spielen. Wir wollen, daß alle nach einheitlichen völkerrechtlichen Regeln vorgehen. Wir wollen nicht, daß diese Begriffe manipuliert werden, in einer Region die Regeln, in einer anderen die Regeln. Wir wollen einheitliche Regeln. Einheitliche Regeln, die die Interessen aller Teilnehmer berücksichtigen.

Roth: Wollen Sie damit sagen, daß die EU je nach Region nach unterschiedlichen Regeln handelt, die nicht dem Völkerrecht entsprechen?

Putin: Absolut. Wie hat man Kosovo anerkannt? Man vergaß die territoriale Souveränität der Staaten, die UN-Resolution 1244, die sie selbst beschlossen haben. Dort durfte man das und in Abchasien und Südossetien nicht. Warum?

Roth: D. h. Rußland ist einzig und allein fähig, die Regeln des internationalen Völkerrechts zu bestimmen. Alle anderen manipulieren, machen es, wie sie wollen? Habe ich Sie richtig verstanden?

Putin: Sie haben mich falsch verstanden. Haben Sie die Unabhängigkeit Kosovos anerkannt? Ja oder Nein?

Roth: Ich selbst nicht, ich bin Journalist.

Putin: Die westlichen Länder. Im Grunde haben es alle anerkannt. Nur, wenn man es dort anerkennt, dann muß man auch die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien anerkennen. Es gibt überhaupt keinen Unterschied. Der Unterschied ist ausgedacht. Dort gab es ethnische Spannungen, und hier gibt es ethnische Spannungen. Dort gab es Verbrechen -- praktisch von beiden Seiten --, und hier kann man die wahrscheinlich finden. Wenn man etwas »gräbt«, dann kann man die bestimmt finden. Dort gab es die Entscheidung, daß beide Völker nicht mehr zusammen in einem Staat leben können, und hier wollen sie es auch nicht. Es gibt keinen Unterschied, und alle verstehen es in Wirklichkeit. Das alles ist nur Gerede, um rechtswidrige Schritte zu decken. Das nennt man das Recht des Stärkeren. Und damit kann sich Rußland nicht abfinden.

Herr Roth, Sie leben schon lange in Rußland, Sie sprechen hervorragend, fast ohne Akzent, russisch. Daß Sie mich verstanden haben, wundert mich nicht. Das ist mir sehr angenehm, jedoch möchte ich auch sehr, daß mich meine europäischen Kollegen verstehen, die sich am 1. September treffen und über diesen Konflikt beraten werden.

Wurde die Resolution 1244 angenommen? Ja! Dort wurde unterstrichen geschrieben: territoriale Souveränität Serbiens! Die Resolution haben sie in den Müll geworfen. Alles vergessen. Sie wollten die Resolution zuerst umdeuten, anders interpretieren, aber es ging nicht. Alles vergessen. Warum? Das Weiße Haus ordnete an, und alle führen aus! Wenn die europäischen Länder auch weiterhin eine solche Politik machen, dann werden wir über europäische Angelegenheiten in Zukunft mit Washington reden müssen.


Roth: Wo sehen Sie die Aufgabe von Deutschland in dieser Krise?

Putin: Wir haben zu Deutschland sehr gute Beziehungen, vertrauensvolle Beziehungen, sowohl politische als auch ökonomische. Als wir mit Herrn Sarkozy gesprochen haben, bei seinem Besuch hier, haben wir gesagt, daß wir keinerlei Territorien in Georgien wollen. Wir werden uns in die Sicherheitszone zurückziehen, die in den früheren internationalen Abkommen vereinbart wurde. Aber da werden wir auch nicht ewig bleiben. Wir betrachten das als georgisches Territo­rium. Unsere Absicht besteht nur darin, die Sicherheit zu gewährleisten und es nicht so zu machen, daß da Truppen und Kriegsgerät heimlich geballt werden. Und zu verhindern, daß da die Möglichkeit eines neuen Konfliktes entsteht. Dann begrüßen wir die Teilnahme von Beobachtern der EU, der OSZE und natürlich auch Deutschlands. Wenn die Prinzipien der Zusammenarbeit geklärt sind.

Roth: Das heißt, Sie werden Ihre Truppen auf jeden Fall zurückziehen.

Putin: Natürlich. Es ist für uns als erstes wichtig, die Sicherheit in der Region sicherzustellen. Als nächstes, Südossetien zu helfen, die eigenen Grenzen zu sichern. Danach haben wir keine Gründe mehr, uns dort aufhalten zu müssen. Und während dieser Arbeit würden wir die Kooperation mit der EU, mit der OSZE nur begrüßen.

Roth: Was können Sie unter der Berücksichtigung der Umstände, in dem sich diese Krise befindet, der Beziehungen zur USA und Eu­ropa, zur Eskalation dieser Krise beitragen?

Putin: Als erstes, das habe ich bereits gestern Ihren CNN-Kollegen gesagt, daß diese Krise unter anderem von unseren amerikanischen Freunden im Zuge des Vorwahlkampfes provoziert wurde. Das schließt auch die Nutzung der administrativen Ressourcen in einer sehr bedauernswerten Ausführung ein, um einem der Kandidaten eine Mehrheit sicherzustellen. In dem Fall, dem der Regierungspartei.

Roth: Das glauben Sie wirklich? [auf russisch]: Das ist kein Fakt ...

Putin: [auf deutsch]: Das ist kein Fakt. [weiter auf russisch] Wir wissen, daß es dort viele amerikanische Berater gegeben hat. Das ist sehr schlecht, wenn man eine Seite des ethnischen Konflikts zuerst aufrüstet und sie dann dazu drängt, die Lösung des ethnischen Problems auf militärischem Wege zu suchen. Das scheint auf den ersten Blick einfacher zu sein, als mehrjährige Verhandlungen zu führen, Kompromisse zu suchen. Das ist jedoch ein sehr gefährlicher Weg. Und die Entwicklung der Ereignisse hat es gezeigt.

Instrukteure, Ausbilder im weitesten Sinne, Personal, welches die Nutzung der gelieferten Technik zeigt, sie alle müssen sich wo befinden? Auf Übungsanlagen und in den Übungszentren. Und wo waren diese Leute? In der Kampfzone! Und da drängt sich der Gedanke auf, daß die amerikanische Führung über die vorbereitete Aktion gewußt und, mehr noch, an dieser teilgenommen hat. Ohne einen Befehl der obersten Führung dürfen sich amerikanische Bürger nicht in der Konfliktzone aufhalten. In der Sicherheitszone durften dies lediglich die zivile Bevölkerung, Beobachter der OSZE und die Blauhelme. Wir jedoch haben da Spuren von amerikanischen Staatsangehörigen gefunden, die keiner dieser Gruppen angehören. Das ist die Frage: Wieso hat die Führung der USA ihren Bürgern erlaubt, sich dort aufzuhalten, obwohl sie kein Recht dazu hatten? Und wenn sie es erlaubt haben, dann habe ich die Vermutung, daß es absichtlich passiert ist, um einen kleinen, siegreichen Krieg zu organisieren. Und falls das schiefläuft, Rußland in die Rolle des Gegners zu drängen, um daraufhin das Wahlvolk hinter einem der Präsidentschaftskandidaten zu vereinigen. Natürlich dem der Regierungspartei, da nur diese über solche Möglichkeiten verfügen kann. Das sind meine Ausführungen und Vermutungen. Es ist Ihre Sache, ob Sie mir zustimmen oder nicht. Aber sie haben das Recht zu existieren, da wir Spuren von amerikanischen Staatsangehörigen in der Kampfzone gefunden haben.

Roth: Und eine letzte Frage, die mich sehr interessiert. Denken Sie nicht, daß Sie sich in der Falle Ihres eigenen autoritären Systems befinden? Sie kriegen Informationen von Ihren Geheimdiensten und anderen Quellen, jedoch haben die Medien Angst, etwas zu berichten, was nicht mit der Linie der Regierung übereinstimmt. Ist es nicht so, daß das von Ihnen geschaffene System Ihnen die Möglichkeit eines breiten Sichtfeldes auf diesen Konflikt nimmt, auf die Geschehnisse in Europa und anderen Ländern?

Putin: Sehr geehrter Herr Roth, Sie haben unser politisches System als autoritär bezeichnet. Sie haben in unserer heutigen Diskussion auch mehrfach über unsere gemeinsamen Werte gesprochen. Worin bestehen diese? Es gibt einige grundliegende Werte, wie das Recht zu leben. In den USA z.B. gibt es immer noch die Todesstrafe, in Rußland und Europa gibt es die nicht. Heißt das denn, daß Sie aus dem NATO-Block austreten wollen, weil es keine vollständige Übereinstimmung der Werte zwischen den Europäern und Amerikanern gibt?

Jetzt zum Konflikt, über den wir heute sprechen. Wissen Sie denn nicht, was sich in Georgien in den letzten Jahren abgespielt hat? Rätselhafter Tod des Ministerpräsidenten Shwania, Niederschlagung der Opposition, physische Zerschlagung von Protestmärschen der Oppositionellen, Durchführung der Wahlen während eines Ausnahmezustands und jetzt diese verbrecherische Aktion in Ossetien mit vielen Toten. Und das ist natürlich ein demokratisches Land, mit dem ein Dialog über die Aufnahme in die NATO oder gar EU geführt werden muß. Und wenn ein anderes Land seine Interessen verteidigt, das Recht seiner Bürger auf Leben verteidigt - 80 unserer Leute wurden sofort getötet, 2000 aus der Zivilbevölkerung wurden getötet -, und wir dürfen unsere Bürger dort nicht schützen? Und wenn wir das machen, dann nimmt man uns die Wurst weg? Wir haben die Wahl: Wurst oder Leben. Wir wählen das Leben, Herr Roth.

Jetzt über den anderen Wert: Pressefreiheit. Sehen Sie nur, wie diese Ereignisse in der amerikanischen Presse beleuchtet werden, die als leuchtendes Beispiel der Demokratie gilt. Und in der europäischen ist es ähnlich. Ich war in Peking, als die Ereignisse anfingen. Massiver Beschuß von Tschinwali, Anfang des Vorstoßes der georgischen Truppen, es gab sogar bereits vielfache Opfer, es hat keiner ein Wort gesagt. Auch Ihre Anstalt hat geschwiegen, alle amerikanischen Anstalten. So, als ob gar nichts passiert. Erst als der Aggressor »in die Fresse« bekam, »Zähne rausgeschlagen« bekommen hat, als er seine ganze amerikanische Ausrüstung aufgegeben und ohne Rücksicht gerannt ist, haben sich alle erinnert. An das internationale Völkerrecht, an das böse Rußland. Da waren alle wieder zur Stelle. Wieso eine solche Willkür [in der Berichterstattung]?

Nun zur »Wurst«: Wirtschaft. Wir wollen normale, wirtschaftliche Beziehungen zu allen unseren Partnern. Wir sind ein sehr zuverlässiger Partner, wir haben noch nie einen Partner betrogen. Als wir Anfang der 60er Jahre die Pipeline in die BRD gebaut haben, hat unser transatlantischer Partner den Deutschen geraten, diesem Projekt nicht zuzustimmen. Sie müssen das ja wissen. Damals hat die Führung Deutschlands die richtige Entscheidung getroffen, und die Pipeline wurde zusammen mit der Sowjetunion gebaut. Heute ist sie eine der zuverlässigsten Gasquellen für die deutsche Wirtschaft. 40 Milliarden Kubikmeter bekommt Deutschland jedes Jahr. Und wird es auch weiterhin, das garantiere ich. Sehen wir uns das globaler an. Wie ist die Struktur unseres Exports in die europäischen Länder und auch in die USA? 80 Prozent davon sind Rohstoffe (Öl, Gas, Ölchemie, Holz, Metalle). Das alles ist von der europäischen und Weltwirtschaft in höchstem Maße gefragt. Das sind sehr gefragte Produkte auf dem Weltmarkt. Wir haben auch Möglichkeiten auf hochtechnologischen Gebieten, die sind jedoch sehr begrenzt. Mehr noch, trotz rechtsgültiger Abkommen mit der EU, beispielsweise über atomaren Brennstoff, werden wir rechtswidrig vom europäischen Markt ferngehalten. Wegen der Position unserer französischen Freunde. Aber sie wissen davon, wir haben mit denen lange diskutiert. Und wenn jemand diese Beziehungen aufgeben will, dann können wir nichts dagegen tun. Wir wollen das jedoch nicht. Wir hoffen sehr, daß unsere Partner ihre Pflichten genauso erfüllen, wie wir unsere.

Soviel zu unserem Export. Was euren Export, also unseren Import, angeht, so ist Rußland ein sehr zuverlässiger und großer Markt. Ich erinnere mich jetzt nicht an genaue Zahlen, der Import der Maschinenbautechnologie aus Deutschland wächst von Jahr zu Jahr. Dieser ist sehr groß heutzutage. Und wenn jemand uns nicht mehr beliefern will, dann werden wir das woanders kaufen. Nur wer braucht das, ich verstehe das nicht.

Wir drängen auf eine objektive Analyse der Geschehnisse, und wir hoffen, daß gesunder Menschenverstand und die Gerechtigkeit siegen werden. Wir sind das Opfer der Aggression, und wir hoffen auf die Unterstüzung unserer europäischen Partner.


Quellen:
  • Vesti-Video: www.vesti.ru/videos?vid=147344
  • Transscript auf russisch: www.government.ru/content/governmentactivity/mainnews/archive/2008/08/29/2344019.htm
  • ARD-Video: www.tagesschau.de/multimedia/video/video369772.html
  • Transscript ARD auf deutsch: www.tagesschau.de/ausland/putin172.html
  • Reaktion Tagesschau (Kommentar 74): blog.tagesschau.de/?p=1380

* Aus: junge Welt, 2. September 2008


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