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Grenze offen

Reiseerleichterungen zwischen Polen und Kaliningrad wecken wirtschaftliche und politische Hoffnungen

Von Tomasz Konicz, Poznan *

Am 27. Juli wurde die Isolation der russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee, die von den EU-Mitgliedsstaaten Polen und Litauen umgeben ist, durch die Einführung eines sogenannten kleinen Grenzverkehrs etwas gelockert. Seit Freitag können die rund 950000 Einwohner des westlichsten russischen Verwaltungsbezirks (Oblast) visafrei in die polnischen Grenzgebiete reisen. Die Kaliningrader dürfen sich an bis zu 180 Tagen im Jahr in der polnischen Nachbarregion aufhalten, nachdem sie für rund 20 Euro eine Reisegenehmigung erworben haben. Ähnliche Regelungen gelten für die Polen im Nordosten des Landes.

Das polnisch-russische Abkommen war im Dezember 2011 unterzeichnet worden. Die Regierung in Warschau insistierte bei parallelen Verhandlungen mit der Europäischen Union auf möglichst großzügige Regelungen, um das auf polnischer Seite einbezogene Gebiet auszuweiten. So sind nun auch die Großstädte Olsztyn und Gdansk Teil der Region, in der der kleine Grenzverkehr stattfinden wird. Das russische Generalkonsulat in Gdansk bestätigte gegenüber Pressevertretern, daß seit der Einführung der Reiseerleichterungen ein reges Interesse auf der polnischen Seite herrsche. Bis zu 60000 Sondergenehmigungen könnten demnach alleine in Gdansk jährlich ausgestellt werden. Polens Medien haben der Lockerung des Grenzregimes breite Aufmerksamkeit geschenkt und Liveübertragungen von den Übergängen gesendet.

Warschau knüpft an die Erleichterungen im Grenzverkehr vor allem wirtschaftliche Erwartungen. Der Nordosten gilt als eines der rückständigsten und von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Gebiete Polens. Mit den Reiseerleichterungen hoffen viele Gemeinden an der russischen Grenze darauf, daß Kaliningrader durch die niedrigeren Lebensmittelpreise und billigeren Dienstleistungen in Polens Armenhaus angezogen werden. Der kostspielige Warentransport aus Rußland führt dazu, daß die Supermarktpreise im Oblast Kaliningrad nahezu doppelt so hoch sind wie im benachbarten Polen.

Doch auch Moskau sieht in der Lockerung des Grenzregimes einen wichtigen politischen Sieg. Für die russische Seite soll der kleine Grenzverkehr nur einen Zwischenschritt zur Einführung einer umfassenden Reisefreiheit für russische Staatsbürger auf dem gesamten Gebiet der EU markieren, die von Moskau seit Jahren gefordert wird. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte im Vorfeld der Einführung des kleinen Grenzverkehrs, er rechne nun mit der Abschaffung der Visapflicht für seine Landsleute im Schengen-Raum schon in 18 Monaten. Aus Brüssel wurden diese Spekulationen aber umgehend dementiert.

Neben den wirtschaftlichen Erwägungen hat die polnische Regierung aber auch politische Gründe für die Unterstützung der russischen Bestrebungen nach Reiseerleichterungen. Dabei nimmt Warschau bereits die Rolle eines Vermittlers zwischen Moskau und Brüssel in dieser Frage ein. Kaliningrad habe sich »von Europa anstecken« lassen, überschrieb die meinungsbildende regierungsnahe Tageszeitung Gazeta Wyborcza einen Hintergrundbericht, in dem die Perspektive einer zunehmenden Entfremdung zwischen der russischen Exklave und dem Kreml umrissen wurde. Kaliningrad werde zwar oft als ein »Flugzeugträger« Rußlands bezeichnet, doch nehme er nicht immer den von Moskau festgelegten Kurs, so die Wyborcza. Die bezeichnete den westlichsten Regierungsbezirk als die »emanzipierteste Region« der Russischen Föderation. Das rechtsliberale Blatt verwies darauf, daß in Kaliningrad bereits im Winter 2010 Massendemonstrationen gegen den kremltreuen Gouverneur so lange stattfanden, bis dieser von Moskau abberufen wurde. Zudem seien in der Kaliningrader Duma immer noch oppositionelle Abgeordnete aktiv. Diese starke Präsenz der Regierungsgegner führte die Wyborcza auf die Nähe der russischen Exklave zur EU zurück: In Kaliningrad sei es schwer, einen Menschen zu treffen, der noch nicht im »wahren Europa« gewesen sei.

* Aus: junge Welt, Montag, 30. Juli 2012


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