Der alte Mann, die Russen und die Perestroika
Michail Gorbatschow wird heute 80 Jahre alt. Feiern wollen das die meisten seiner Landsleute nicht
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Die demokratischen Veränderungen würden sich viel zu langsam vollziehen. Und das sei kein
Wunder angesichts ausufernder Korruption und Vetternwirtschaft, wenn statt Kompetenz persönliche
Loyalität zähle. Zudem mischten sich die Geheimdienste mit ihrer Übermacht dreist in die Politik ein.
»Ich schäme mich für sie«, sagt Michail Gorbatschow und meint seine Nachfolger an Russlands
Staatsspitze: Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew. Bräsig, das Doppelkinn auf der breiten Brust,
im Rücken ein blau ausgeleuchtetes Aquarium, lässt der erste und letzte Präsident der Sowjetunion
vor ausgewählten Journalisten wohlwollender Medien wie Radio Liberty am Vorabend seines 80.
Geburtstags am heutigen 2. März sein Leben Revue passieren.
Abgesehen von der Enthüllung, dass der Inlandsgeheimdienst KGB ihn 1955, kurz vor Abschluss
seines Studiums der Rechtswissenschaften in Moskau, angeblich als IM anwerben wollte, er dies
aber ablehnte, erfahren die Zuhörer nichts Neues von Gorbatschow. Nichts zu den Gründen der
Kompromissbereitschaft bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit, als er die DDR wie eine
heiße Kartoffel fallen ließ, nichts zum August 1991, als die konservative Nomenklatura gegen ihn
putschte. Welche Rolle Deutschlands Lieblingsrusse dabei wirklich spielte, ist bis heute ungeklärt.
Der inzwischen verstorbene Chef des Notstandskomitees, der damalige Vizepräsident Gennadi
Janajew, schwor, Gorbatschow habe von dem Putsch gewusst und das Vorhaben sogar gebilligt.
Am 17. August, so Janajew, hätten er und seine Mitverschworenen ihre Vorbereitungen für 15
Minuten unterbrochen, weil Michail Sergejewitsch KGB-Chef Wladimir Krjutschkow telefonisch zu
sprechen wünschte. Und der habe, als er wieder zu der Runde stieß, nebst Grüßen von
Gorbatschow auch dessen Wünsche »für gutes Gelingen« des Masterplans ausgerichtet.
Mit Kritik an der Perestroika darf man Gorbatschow schon gar nicht kommen. Bei allen Schwächen
und Problemen heute hätte der von ihm begonnene Umbau der Gesellschaft die Weichen dafür
gestellt, dass eine Rückkehr in die Vergangenheit unmöglich ist, sagt er. Eigentlich doziert er, spricht
von sich selbst in der dritten Person, ziemlich selbstgerecht, auch mit einer gehörigen Portion
Altersstarrsinn, der bei unbequemen Wahrheiten auf Durchgang stellt.
Gorbatschow dürfte nicht entgangen sein, dass die meisten älteren Russen in ihm nicht nur den
Totengräber der Sowjetunion sehen, des Staates, mit dem sie und viele Menschen in den
ehemaligen Unionsrepubliken die beste Zeit ihres Lebens verbindet Auch der russische
Raubritterkapitalismus, der die Gesellschaft in wenige Superreiche und viele Arme spaltete, ist nach
Volkes Meinung eine direkte Folge der Perestroika. Gorbatschow hatte deren Eigendynamik
offenbar unterschätzt und stolperte den Entwicklungen bald nur noch hinterher, statt sie in sozial
verträgliche Bahnen zu steuern. Mehr noch, im »Hungerwinter« 1991, als die Moskowiterinnen sich
abends um zehn bei Ladenschluss mit wasserfestem Kopierstift Nummern auf die Handflächen
schrieben, um morgens in aller Frühe ihren Platz in der Schlange wieder einnehmen zu können, ließ
sich Gorbatschow mit Enkelin Natascha von der ersten US-Pizza-Kette, die in Moskau eröffnete, für
einen Werbeclip verpflichten. So mancher legte das noch als geschmacklos aus. Dass er inzwischen
als Werbeträger für Hersteller von Luxuslimousinen anschaffen geht, sehen die meisten dagegen als
Instinktlosigkeit.
Gorbatschow selbst erklärt seine Abstecher in die Welt der Schönen und Reichen mit Fundraising
für seine Stiftung. Böse Zungen wollen sie vor allem als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für seine
einstige Umgebung sehen. Womöglich nicht ganz zu Unrecht. Die Projekte gehen an den wahren
Problemen des Landes vorbei und sind mehr Trauerarbeit, für die selbst der Westen, der
Gorbatschow nach wie vor als einzige Lichtgestalt Russlands wahrnimmt, nur höfliches Desinteresse
aufbringt.
Ein politisches Comeback ist so für Gorbatschow nicht zu schaffen. Darum ringt er, seit er im
Dezember 1991 Kremlschlüssel und Atomkoffer an seinen Intimfeind Boris Jelzin übergeben
musste. Bei den Präsidentenwahlen 2000, als Gorbatschow gegen Putin – den Favoriten – antrat,
erhielt er weniger als ein Prozent aller Stimmen. Ähnlich schmählich scheiterte er bei der Gründung
von Parteien. Nach geltendem Recht werden für die Zulassung der Nachweis von
Basisorganisationen in mindestens der Hälfte der 83 russischen Regionen und wenigstens 50 000
eingeschriebene Mitglieder verlangt. Gorbatschow verfehlte das Ziel um Längen, obwohl in
Russland durchaus Bedarf an einer sozialdemokratischen Partei besteht. Doch Michail
Sergejewitsch macht unfreiwillig klar, dass selbst die beste Idee nicht zur materiellen Gewalt wird,
wenn die falschen Leute sie den Massen verkaufen.
* Aus: Neues Deutschland, 3. März 2011
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