Ukraine: Mit Gogol aus der Identitätskrise
Russland feiert am 1. April den 200. Geburtstag von Nikolai Gogol, einem der größten Klassiker der russischen Literatur
Von Andrej Martschukow *
Das Jubiläum ist ein guter Anlass, dem Schriftsteller und seinem literarischen Nachlass zu gedenken.
Gefeiert wird der Geburtstag Gogols auch in der Ukraine. Das ist gut so, denn Gogol samt seines Lebenswerks gehört zu unserem gemeinsamen Kulturgut. Leider wird das Jubiläum des Schriftstellers in der Ukraine politisch ausgeschlachtet.
Eine ideologische Kampagne wurde losgetreten, die "Kampf um Gogol" heißt. Als dessen Speerspitze sind die dieselben Kräfte am Werk, die die Kampagne "Holodomor - Genozid" aufzogen.
Sie wollen "beweisen", dass Gogol nur der Ukraine gehöre, Russland nicht geliebt und verachtet habe und beinahe ein ukrainischer Nationalist gewesen sei. Damit soll das Nationalbewusstsein des Volks der Ukraine (und Russlands) verändert werden, um unsere geistig-kulturelle Einheit zu zerstören.
In der Einstellung zu Gogol sind in der Ukraine zwei Tendenzen zu beobachten.
Die erste - die Ablehnung des "russischen Schriftstellers" Gogol - überwiegt vorläufig. Kennzeichnenderweise stufen die meisten ukrainischen Lehrbücher Gogol in die "ausländische Literatur" ein.
Man sollte meinen: Ein Genie, geboren in Kleinrussland (wie die Ukraine damals hieß), Autor der poetischsten Beschreibungen der Ukraine - warum ihn ablehnen? Nun, Gogols Liebe zur Ukraine ist anders als die der Nationalisten. Der Unterschied betrifft auch die Einstellung zu Russland und Russentum.
Die zweite Tendenz besteht darin, Gogol zu einem Kämpfer für die ukrainische Nation und einem Hasser Russlands zu stilisieren. Sie macht vor allem die ganze Kampagne aus.
Die Ideologie des ukrainischen Nationalismus beruht auf der Behauptung, die Ukrainer und die Russen seien einander absolut fremde Völker von unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichem historischem Schicksal. In vollem Einklang mit dieser Einstellung wird auch Gogols Bild gebastelt - entgegen all dem, was er selbst dachte und schrieb.
Gogol wird bezichtigt, seine nationale Zugehörigkeit "verraten" und seine Seele an Russland "verkauft" zu haben. Sein Schaffen wird in zwei Teile geteilt. Der erste Teil ist "ukrainisch" ("Abende auf dem Weiler bei Dikanka", "Mirgorod") und deshalb gut.
Der zweite, "russische" Teil ist dagegen schlecht ("Der Revisor", "Die toten Seelen", der Sankt Petersburger Zyklus und natürlich "Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden"). Gogol habe Russland nicht lieben lernen können und die Trübseligkeit des russischen Lebens gezeigt.
Russland werfen die "Kämpfer für den ukrainischen Gogol" vor, es habe sich sein Schaffen angeeignet, um sich aus der "drückenden asiatischen Hinterlassenschaft" zu erheben und sich seiner "intellektuellen und kulturellen Komplexe" gegenüber den europäischen Völkern zu entledigen.
Gogols Werke werden "berichtigt", besonders bei ihrer Übersetzung ins Ukrainische. Es wird alles gestrichen, was mit Russentum zu tun hat. So sind in einer für Schüler und Studenten bestimmten Ausgabe von "Taras Bulba" das Wort "russisch" konsequent durch "ukrainisch" und die "russische Seele" etwa durch "Kosakenseele" ersetzt. Eine Liste mit diesen Beispielen könnte beliebig verlängert werden.
Zu Gogols Zeiten hatte das Wort "ukrainisch" eine territoriale Bedeutung, das Wort "Ukrainer" kam so gut wie nicht vor. Später wurden die Wörter von den Urhebern der ukrainischen Idee in das Synonym "nichtrussisch" umgedeutet.
Sonst sprach man von "Kleinrussen" und "Kleinrussland", die Begriffe gebrauchte auch Gogol. Mit der Zeit aber bekamen die Begriffe "Kleinrusse" und "Ukrainer" den Sinn einer absolut unterschiedlichen Nation.
Was verstand Gogol unter der nationalen Frage? Sein nationales Weltempfinden, seine Sicht auf Russland und Kleinrussland entwickelten sich nach Maßgabe seines Werdegangs als Persönlichkeit und Schriftsteller, allmählich wurden sie von ganz anderen Ideen und Zielen formiert.
Schon in der Jugend fühlte er sich dazu prädestiniert, als russischer Schriftsteller sein Wort an ganz Russland und die ganze Menschheit zu richten.
Gewiss, die Ansichten des jungen Gogol über die Geschichte wurden von jenen autonomistischen Vorstellungen beeinflusst, die im kleinrussischen Adelvertreten waren. In seinen historischen Skizz en wiederholte er an einigen Stellen, besonders unter dem Einfluss seiner persönlichen Erlebnisse, ihre Klischees.
Aber selbst dann fiel es ihm (wie auch seinen weitaus meisten Landsleuten) nicht ein, die Zugehörigkeit Kleinrusslands zu Russland anzuzweifeln. Später rückte er von diesen Klischees gänzlich ab.
Bekannt wurde Gogol zuerst dank seiner Themen um Kleinrussland. Später beschäftigten ihn umfassendere Fragen, wenn er auch die Liebe zu seinem Geburtsland sein Leben lang bewahrte.
Aber Liebe zu Kleinrussland und Hass gegen Russland sind entgegengesetzte Begriffe. Zudem trugen seine Erzählungen dazu bei, im russischen Bewusstsein das Bild von Kleinrussland und Kleinrussen als "zu uns Gehörende" zu stärken, und in der kleinrussischen Gesellschaft förderten sie das gesamtrussische Bewusstsein.
Unbegründet sind die Behauptungen, Gogol habe Russland gegeißelt ("Der Revisor" und "Die toten Seelen" trafen beim Leser auf positive Resonanz, Zar Nikolaus I. war dem Schriftsteller gnädig).
Es ist unmöglich, das reale Leben widerzuspiegeln, wenn man sich nicht den geistigen und sozialen Geschwüren der Gesellschaft zuwendet. Er sah seine Aufgabe darin, schlechte Eigenschaften im Menschen (und in sich selbst) zu beseitigen, und nicht darin, Russland zu verhöhnen.
Gogol ist ein zutiefst christlicher Dichter und außerhalb des Christentums nicht zu verstehen. "Alles, worin die Erkenntnis der Menschen und der menschlichen Seele zum Ausdruck kam, ... beschäftigte mich, und auf diesem Weg ... bin ich zu Christus gekommen", schrieb er.
Es gibt weder einen "lichten" noch einen "dunklen" Gogol. Er war ein Mensch, der die Welt zu erkennen und auf ihre wichtigsten Fragen zu antworten suchte. Es war sein Erwachsenwerden, die allmähliche Entwicklung seiner Persönlichkeit und nicht die Umwandlung des "ukrainischen Paulus" in einen "russischen Saulus", wie die Nationalisten beharrlich hervorheben.
Die geistige Evolution als gläubiger Christ und Geschichtsstudien haben ihm geholfen, Russland zu erkennen. Dies in seinem ursprünglichen, religiösen Sinn, den die vom Westen geprägte Adelsschicht verloren hatte, der sich jedoch in der Kirche und dem rechtgläubigen Volk erhalten hatte.
"Ich möchte Russland auch nicht für drei Monate verlassen", schrieb Gogol einem Brieffreund. "Ich würde um keinen Preis aus Moskau wegreisen, das ich so sehr mag. Auch überhaupt wird Russland mir immer näher...".
Das rechtgläubige Weltempfinden ließ Gogol auch das Schicksal Kleinrusslands sowie das nationale Selbstempfinden neu überdenken. "... und weiß auch selber nicht, welche Seele ich habe, eine ukrainische oder eine russische", schrieb er in einem Brief. "Ich weiß nur, dass ich weder dem Kleinrussen den Vorzug geben würde vor dem Russen noch dem Russen vor dem Kleinrussen. Beide Naturen sind von Gott überreich beschenkt, und jede davon schließt das ein, was die andere nicht hat - ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich gegenseitig ergänzen müssen."
Kennzeichnend ist auch Gogols Haltung zur russischen Sprache. Sie ist ihm nicht nur seine Muttersprache, tiefgründig und schön, sondern auch die Sprache des Glaubens und der Gotterkenntnis. Was für ein "Genuss ist es, ... ihre wunderbaren Gesetze zu erfassen, in denen sich ... Gott der Ewige spiegelt", schrieb er in einem Brief.
"Wir Kleinrussen und Russen brauchen die eine Poesie, eine ruhige und starke", suchte Gogol seine Landsleute zu überzeugen, "eine unvergängliche Poesie der Wahrheit, Güte und Schönheit."
Demnach müssten beide Teile der Rus durch den Gang der Geschichte und den göttlichen Willen den Weg nicht nur einer politischen, sondern auch der kulturellen und nationalen Einheit gehen. Warum?
Der gesamtrussische Weg entspreche am vollständigsten der Prädestination sowohl Groß- als auch Kleinrusslands, die zusammen Russland ausmachen. Erst wenn zu einer unzertrennlichen Einheit verschmolzen, könnten sie sich zu jenem geistigen Zustand erheben, der sie fähig machen werde, die ihnen aufgetragene Aufgabe zu erfüllen: der Menschheit Gottes Zeugnis auf Erden zu übermitteln.
Damit äußerte Gogol seine negative Haltung zu der aufgekommenen ukrainischen Idee, deren Wesen eben ihre größtmögliche kulturelle, nationale und politische Trennung war. Eben wegen dieser Wahl lehnen die ukrainischen Nationalisten Gogol ab.
Sein Kredo aber war: "Meine Gedanken, mein Name, meine Werke werden Russland gehören", als deren natürlichen Teil er auch seine engere Heimat Kleinrussland sah.
Zum Verfasser: Andrej Martschukow, Kandidat der historischen Wissenschaften, ist Mitarbeiter des Instituts der Russischen Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.
* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 28. März 2009
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