Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nicht nur Phantomschmerzen

Ein Buch über Bruchlinien russischer Historie

Von Ingolf Bossenz *

Russlands jüngste Geschichte begann mit einem Ende - dem der Sowjetunion. Der Journalist Uwe Krüger folgte den Bruchlinien einer Macht, die nach wie vor Weltgeltung beansprucht.

Das Reich zerfiel. Doch wie nach einer Amputation brennen, jucken, kneifen die abgetrennten Glieder weiter. Und es sind nicht nur Phantombeschwerden. Denn Aserbaidshan, Georgien, Kirgistan und andere der 14 ehemaligen Sowjetrepubliken bereiten dem einstigen »Mutterland« Russland auch fast zwei Jahrzehnte nach der offiziellen Auflösung der UdSSR reale politische Schmerzen. Kirgistan, wo im Juni ein veritabler Bürgerkrieg ausbrach und aufgrund eines Paktes über kollektive Sicherheit von 1992 eine russische Intervention diskutiert wurde, ist dafür das aktuellste Beispiel.

Der bislang gravierendste Fall liegt zwei Jahre zurück: Nach einem georgischen Angriff auf das abtrünnige Südossetien setzte der Kreml im August 2008 zum ersten Mal nach 1991 sein Militär massiv gegen einen souveränen Staat aus seinem früheren Machtbereich ein. »Die gereizte Großmacht«, wie Uwe Krüger Russland in seinem gleichnamigen Buch nennt, zeigte damit nachdrücklich, wo ihre Grenzen liegen - die ihrer staatlichen Geografie wie die ihrer politischen Geduld. Ein regionaler Konflikt mit internationalen Dimensionen, das Paradigma eines Dreieckskonflikts - zwischen Russland einerseits und seinem ehemaligen Machtgebiet sowie dem durch die NATO repräsentierten Westen andererseits. Dieses Paradigma reflektierten auch die - für Krüger »völlig überzogenen« - dominierenden Deutungsmuster des russisch-georgischen Krieges.

Während Präsident Dmitri Medwedjew im 8. August 2008 (Beginn der Kämpfe) den »11. September« für Russland sah und der NATO das Provozieren des Südkaukasus-Konfliktes vorwarf, verglichen westliche Politologen das Datum in seiner historischen Tragweite mit dem Fall der Berliner Mauer: Demnach wurde nun die Restauration des Sowjetimperiums eingeleitet. Eine solche Analogie, so Krüger, sei »schon deshalb nicht zutreffend, weil sie Russlands politische, wirtschaftliche und militärische Möglichkeiten bei Weitem überschätzt«.

Über welche Möglichkeiten Russland heute verfügt, wie sich diese seit dem Ende des Kalten Krieges entwickelt haben und in welcher Relation sie zu Intentionen der Kremlführungen von Jelzin über Putin bis Medwedjew standen und stehen, das breitet der Autor auf knapp 300 Seiten dichtester Information aus - in einer Weise, die natürlich nicht alle Fragen klärt, den Leser aber mit dem Stoff versorgt, sich selbst auf die Suche nach Antworten zu begeben.

Ein Foto, das der Autor 1994 in Frankfurt (Oder) vom Abschiedszeremoniell der russischen Westgruppe in Ostdeutschland machte, zeigt deren letzten Befehlshaber, General Matwej Burlakow. Das Gesicht, den Tränen nah, wird beschirmt von einer Militärmütze, deren Kokarde den mit Zepter und Reichsapfel ausgestatteten Doppeladler über dem Sowjetstern zeigt - über dem Symbol des alten Reiches das des noch älteren.

Burlakow personifiziert so den gefühlten Tiefpunkt einer Armee, die gegründet wurde von dem genialen Strategen Trotzki unter dem Druck des Bürgerkriegs, die bei gewaltigen Verlusten im Großen Vaterländischen Krieg den Hitlerfaschismus zerschlug, die mit gigantischen Anstrengungen aufrechterhalten wurde als östliches Komplement im »Gleichgewicht des Schreckens«.

Die Transformation des sowjetischen Militär-Industrie-Komplexes ist zweifellos die entscheidende Folie, unter der die Brüche, Wandlungen und Innovationen der strategischen Etablierung Russlands in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts erkenn- und verstehbar werden. Dieser Sicht folgt Krüger konsequent. Und zugleich so weiträumig, dass die Lage der russischen Minderheiten ebenso behandelt wird wie der Konfliktherd Kaukasus, Korruption und Vetternwirtschaft ebenso wie die ehrgeizige Energiepolitik Moskaus. Organisch eingebunden in den assoziativ aufbereiteten Lesestoff hat Krüger biografische Skizzen der politischen und militärischen Protagonisten im Moskauer Machtapparat.

Zwei Sätze am Schluss des Buches, so banal sie klingen, dürften wohl der Schlüssel einer vernünftigen und berechenbaren internationalen Politik sein: »Wenn Russland nach den Alleingängen der Supermacht USA die Rückkehr zu einer multipolaren Welt mit einer entsprechenden Sicherheitsarchitektur fordert, kann es nicht die autarke Karte spielen. Zugleich müssen Washington, die NATO und die EU die berechtigten Belange Moskaus ernst nehmen und dieses einbinden statt einzukreisen.« Kommunismus, so meinte Brecht, sei »das Einfache, das schwer zu machen ist«. Politik auch.

Uwe Krüger: Die gereizte Großmacht. Russlands Anspruch auf Weltgeltung. Bouvier Verlag, Bonn. 288 S., br., 24,90 €.

* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010


Zurück zur Russland-Seite

Zur Seite "Neue Weltordnung"

Zurück zur Homepage