Nicht nur Phantomschmerzen
Ein Buch über Bruchlinien russischer Historie
Von Ingolf Bossenz *
Russlands jüngste Geschichte begann mit einem Ende - dem der
Sowjetunion. Der Journalist Uwe Krüger folgte den Bruchlinien einer
Macht, die nach wie vor Weltgeltung beansprucht.
Das Reich zerfiel. Doch wie nach einer Amputation brennen, jucken,
kneifen die abgetrennten Glieder weiter. Und es sind nicht nur
Phantombeschwerden. Denn Aserbaidshan, Georgien, Kirgistan und andere
der 14 ehemaligen Sowjetrepubliken bereiten dem einstigen »Mutterland«
Russland auch fast zwei Jahrzehnte nach der offiziellen Auflösung der
UdSSR reale politische Schmerzen. Kirgistan, wo im Juni ein veritabler
Bürgerkrieg ausbrach und aufgrund eines Paktes über kollektive
Sicherheit von 1992 eine russische Intervention diskutiert wurde, ist
dafür das aktuellste Beispiel.
Der bislang gravierendste Fall liegt zwei Jahre zurück: Nach einem
georgischen Angriff auf das abtrünnige Südossetien setzte der Kreml im
August 2008 zum ersten Mal nach 1991 sein Militär massiv gegen einen
souveränen Staat aus seinem früheren Machtbereich ein. »Die gereizte
Großmacht«, wie Uwe Krüger Russland in seinem gleichnamigen Buch nennt,
zeigte damit nachdrücklich, wo ihre Grenzen liegen - die ihrer
staatlichen Geografie wie die ihrer politischen Geduld. Ein regionaler
Konflikt mit internationalen Dimensionen, das Paradigma eines
Dreieckskonflikts - zwischen Russland einerseits und seinem ehemaligen
Machtgebiet sowie dem durch die NATO repräsentierten Westen
andererseits. Dieses Paradigma reflektierten auch die - für Krüger
»völlig überzogenen« - dominierenden Deutungsmuster des
russisch-georgischen Krieges.
Während Präsident Dmitri Medwedjew im 8. August 2008 (Beginn der Kämpfe)
den »11. September« für Russland sah und der NATO das Provozieren des
Südkaukasus-Konfliktes vorwarf, verglichen westliche Politologen das
Datum in seiner historischen Tragweite mit dem Fall der Berliner Mauer:
Demnach wurde nun die Restauration des Sowjetimperiums eingeleitet. Eine
solche Analogie, so Krüger, sei »schon deshalb nicht zutreffend, weil
sie Russlands politische, wirtschaftliche und militärische Möglichkeiten
bei Weitem überschätzt«.
Über welche Möglichkeiten Russland heute verfügt, wie sich diese seit
dem Ende des Kalten Krieges entwickelt haben und in welcher Relation sie
zu Intentionen der Kremlführungen von Jelzin über Putin bis Medwedjew
standen und stehen, das breitet der Autor auf knapp 300 Seiten
dichtester Information aus - in einer Weise, die natürlich nicht alle
Fragen klärt, den Leser aber mit dem Stoff versorgt, sich selbst auf die
Suche nach Antworten zu begeben.
Ein Foto, das der Autor 1994 in Frankfurt (Oder) vom
Abschiedszeremoniell der russischen Westgruppe in Ostdeutschland machte,
zeigt deren letzten Befehlshaber, General Matwej Burlakow. Das Gesicht,
den Tränen nah, wird beschirmt von einer Militärmütze, deren Kokarde den
mit Zepter und Reichsapfel ausgestatteten Doppeladler über dem
Sowjetstern zeigt - über dem Symbol des alten Reiches das des noch älteren.
Burlakow personifiziert so den gefühlten Tiefpunkt einer Armee, die
gegründet wurde von dem genialen Strategen Trotzki unter dem Druck des
Bürgerkriegs, die bei gewaltigen Verlusten im Großen Vaterländischen
Krieg den Hitlerfaschismus zerschlug, die mit gigantischen Anstrengungen
aufrechterhalten wurde als östliches Komplement im »Gleichgewicht des
Schreckens«.
Die Transformation des sowjetischen Militär-Industrie-Komplexes ist
zweifellos die entscheidende Folie, unter der die Brüche, Wandlungen und
Innovationen der strategischen Etablierung Russlands in der Weltpolitik
des 21. Jahrhunderts erkenn- und verstehbar werden. Dieser Sicht folgt
Krüger konsequent. Und zugleich so weiträumig, dass die Lage der
russischen Minderheiten ebenso behandelt wird wie der Konfliktherd
Kaukasus, Korruption und Vetternwirtschaft ebenso wie die ehrgeizige
Energiepolitik Moskaus. Organisch eingebunden in den assoziativ
aufbereiteten Lesestoff hat Krüger biografische Skizzen der politischen
und militärischen Protagonisten im Moskauer Machtapparat.
Zwei Sätze am Schluss des Buches, so banal sie klingen, dürften wohl der
Schlüssel einer vernünftigen und berechenbaren internationalen Politik
sein: »Wenn Russland nach den Alleingängen der Supermacht USA die
Rückkehr zu einer multipolaren Welt mit einer entsprechenden
Sicherheitsarchitektur fordert, kann es nicht die autarke Karte spielen.
Zugleich müssen Washington, die NATO und die EU die berechtigten Belange
Moskaus ernst nehmen und dieses einbinden statt einzukreisen.«
Kommunismus, so meinte Brecht, sei »das Einfache, das schwer zu machen
ist«. Politik auch.
Uwe Krüger: Die gereizte Großmacht. Russlands Anspruch auf
Weltgeltung. Bouvier Verlag, Bonn. 288 S., br., 24,90 €.
* Aus: Neues Deutschland, 2. August 2010
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