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Russland stellt sich anderes Europa vor

Ausweichende NATO-Reaktionen auf Medwedjews ersten außenpolitischen Auftritt

Von Hans Voß *

Russlands neuer Präsident Dmitri Medwedjew nutzte die Gelegenheit seines jüngsten Berlin- Besuches, um russische Erwartungen bezüglich der europäischen Sicherheitslandschaft zu präzisieren. Die Empfänger der Botschaft scheinen indes nicht zum konstruktiven Dialog bereit zu sein.

Seit langem zeigt Moskau seine Unzufriedenheit mit der Situation auf dem europäischen Kontinent. Obwohl die NATO immer wieder beteuert, dass sie Russland nicht als Gegner betrachtet, unternimmt sie gleichzeitig fortgesetzt Schritte, die als militärische Einkreisung Russlands verstanden werden können und in Moskau so verstanden werden. Die Zahl der Pakt-Mitglieder wird ständig vergrößert. Derzeit stehen Kroatien und Albanien in der Tür. Der Ukraine und Georgien werden Hoffnungen gemacht. Auf der NATO-Gipfelkonferenz im April in Bukarest wurden die Außenminister befugt, auf ihrer Dezember-Tagung über den Beginn der Aufnahmeverhandlungen mit beiden Staaten zu entscheiden.

Zu den Plänen, Russland einzukreisen, gehören die USA-Absichten, ein Raketenabwehrsystem westlich der russischen Grenzen, in Polen und Tschechien, zu stationieren. In Bukarest haben sich alle NATO-Staaten bereiterklärt, die Trägerschaft für dieses System zu übernehmen. Sie legitimierten damit den US-amerikanischen Alleingang.

Vor Dmitri Medwedjew haben bereits sein Amtsvorgänger Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow und der vormalige Verteidigungsminister und jetzige Vizepremier Sergej Iwanow kritisiert, dass parallel zu den Akten der militärischen Einkreisung Schritte erfolgen, die vorhandene Instrumente der militärischen Entspannung und der Zusammenarbeit ihres Wertes berauben. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist seit Jahren zu einem Schattendasein verurteilt. Soweit sie aktiv wird, interveniert sie einseitig gegen Russland und seine Verbündeten. Die OSZE wird so zum Bestandteil einer antirussischen Ausrichtung, die wieder in Mode gekommen ist. Alle Moskauer Bemühungen, die OSZE an ihre Ursprungsaufgaben zurückzuführen und die Gleichbehandlung aller ihrer Mitglieder zu garantieren, blieben bisher erfolglos.

Ein ähnliches Schicksal erlitt der Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen in Europa (KSE), der seit 1999 in überarbeiteter Fassung vorliegt. Die NATO-Staaten weigern sich beharrlich, den angepassten Vertrag zu ratifizieren und ihn damit in Kraft zu setzen. Sie stellen Bedingungen an das russische Verhalten, was Moskau als Erpressung zurückweist.

Um die Stagnation zu überwinden, hat die russische Regierung am 30. November 2007 für den KSEVertrag ein einjähriges Moratorium verkündet. Sie verbindet damit die Hoffnung, dass die Vertragsstaaten die Zeit nutzen, um ihre Haltung zur Begrenzung der konventionellen Rüstungen in Europa zu überdenken. Zugleich sollte Verhandlungen beginnen, die eine Neufassung des inzwischen bereits wieder überholten Vertragswerks zum Ziel haben. Doch die NATO bewegt sich nicht. Es herrscht Stillstand.

Das alles ist der Hintergrund für den Berliner Vorstoß von Präsident Dmitri Medwedjew, die Ausarbeitung eines grundsätzlich neuen Vertrages über die europäische Sicherheit ins Auge zu fassen. Der russischen Führung ist es ernst mit der Absicht, eine Neubestimmung der europäischen Sicherheitsstrukturen vornehmen zu lassen. Sie argumentiert: Wenn kein Staat in Europa aggressive Ziele verfolgt, müsste eine Einigung über gemeinsame Grundsätze möglich sein. Um dem Projekt entsprechendes Gewicht zu verleihen, sollte die Vertragsausarbeitung mit einer Spitzenbegegnung eingeleitet werden...

Die Reaktion bei der NATO ist verhalten. In der Allianz versucht man, die Bedeutung der russischen Initiative herunterzuspielen. Soweit überhaupt inhaltlich Stellung bezogen wird, agieren NATOVertreter ausweichend. Man verweist auf bestehende Strukturen und gefasste Beschlüsse, auf eingeschlagene Richtungen und abgegebene Versprechungen. Bereitschaft, einen konstruktiven Dialog zu beginnen, ist nicht zu erkennen.

Wenn es auch eines langen Atems bedarf, um Veränderungen im europäischen Sicherheitsgefüge durchzusetzen, so hat Dmitri Medwedjew mit seinen Ausführungen jedoch erreicht, dass die russische Bereitschaft zu einem Neuanfang in den europäischen Beziehungen allgemein verdeutlicht wurde. Diejenigen aber, die bisher noch gerätselt haben, ob Medwedjew sich als nachgiebiger Politiker zeigen würde, werden zur Kenntnis genommen haben, dass er ebenso wie sein Vorgänger russische Interessen mit Nachdruck vertritt. Das tut er aber mit Charme und Gelassenheit.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2008

Die Berliner Rede Medwedjews Haben wir hier dokumentiert:

"Wir sind in erster Linie dem Völkerrecht verpflichtet" / "We are committed above all to the rule of law"
Der russische Präsident Dmitri Medwedjew hält bei seinem Deutschlandbesuch eine große Grundsatzrede - Im Wortlaut (englisch; deutsche Zusammenfassung) / Remarks of the President of Russia in Berlin




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