Chodorkowski erneut für schuldig befunden
Strafmaß für den einstigen Ölmilliardär und seinen Partner wird in den kommenden Tagen erwartet
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Für schuldig befand das Gericht in Moskau den ehemaligen Ölmilliardär Michail Chodorkowski und seinen Juniorpartner Platon Lebedew in den beiden wichtigsten Punkten der Anklage: Diebstahl von 218 Millionen Tonnen Rohöl und Geldwäsche.
»Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass Chodorkowski und Lebedew fremdes Eigentum gestohlen haben, indem sie als organisierte Gruppe in Abmachung und unter Missbrauch ihrer Position agierten«, erklärte Richter Viktor Danilkin am Montagmorgen im Gerichtssaal des Moskauer Chamowniki-Bezirks. Nach dem Schuldspruch begann Danilkin die ausführliche Urteilsbegründung zu verlesen, was sich einige Tage lang hinziehen kann.
Wegen Steuerhinterziehung und Betrug waren Chodorkowski und Lebedew schon 2005 zu acht Jahren Haft verurteilt worden. Jeweils 14 Jahre hatte die Staatsanwaltschaft im zweiten Prozess Ende Oktober beantragt. Ob der Richter, der den Fall seit März 2009 ohne Beisitzer verhandelt, dem Antrag folgt, wird sich bald erweisen. Strafmindernd wirkt nur, dass der Diebstahl von Aktien bei der Übernahme von Tomskneft-WNK, eines Öl- und Gasförderers in Sibirien, der Chodorkowski und Lebedew anfangs ebenfalls vorgehalten wurde, inzwischen verjährt ist.
Zwar hatte sich Wadim Kljuwgant, einer der Anwälte Chodorkowskis, noch Ende letzter Woche optimistisch gegeben: »Wenn das Gericht frei und nur nach seinem Gewissen entscheidet, kann es kein anderes Urteil als Freispruch geben.« Aus Sicht der Verteidigung war die Anklage schon Ende Mai nach der Vernehmung hochrangiger Zeugen wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Weder der für Industrie zuständige Vizepremier Viktor Christenko noch Sberbank-Chef German Gref – zur Tatzeit Vizechef des Komitees für Staatseigentum – wollten die Vorwürfe bestätigen. Kritiker der Prozesse vermuteten von Anfang an politische Hintergründe: Chodorkowski hatte zu seinen Oligarchen-Zeiten die Opposition – auch die Kommunisten – finanziell unterstützt.
Hoffnung kam bei den Verteidigern auf, als Richter Danilkin die von ihm selbst für den 15. Dezember anberaumte Urteilsverkündung auf den 27. verschob. Die »politische Willensbildung«, meinte Anwältin Jelena Lukjanowa, sei noch nicht abgeschlossen. Gemeint waren Differenzen zwischen Ministerpräsident Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedjew. Die liberale Opposition und westliche Beobachter hatten diesen Gegensatz schon konstruiert, als der heutige Präsident noch Kandidat war, und hielten daran trotz Mangels an Beweisen eisern fest. Sie sahen sich bestätigt, als Putin einen Tag nach der Verschiebung der Urteilsverkündung zum Thema das Wort ergriff: Ein Dieb gehöre ins Gefängnis. Chodorkowskis Schuld sei bewiesen.
Der Ministerpräsident habe damit den ersten Prozess gemeint, versuchte sein Pressesprecher die Wogen der Entrüstung zu glätten. Liberale hatten mit Verfassungsklage wegen Beeinflussung der Justiz gedroht. Auch Chodorkowskis Sohn Pawel vermutete in einem Interview für Radio »Echo Moskwy«, vor allem Putins Druck habe den Richter bewogen, die Argumentation der Anklage zu übernehmen.
Unmittelbar vor Beginn der Urteilsverkündung hatte sich allerdings auch Medwedjew geäußert. Weder der Präsident noch andere Amtsträger hätten das Recht, ihre Meinung zu diesem oder anderen Fällen vor der Urteilsverkündung zu äußern, sagte er am vergangenen Freitag bei einem Gespräch mit den Chefs der drei großen überregionalen Fernsehkanäle. Und wenn es Beweise gibt, dass Verbrechen, wie sie Chodorkowski zur Last gelegt werden, auch von anderen begangen wurden, dann stelle sich die Frage, wo diese Daten sind. »Wenn es sie gibt, möchte ich, dass sie hervorgeholt werden. Und wenn dann trotzdem nichts passiert, dann hätten Sie Recht mit Ihrer Bemerkung, wonach die Justiz selektiv zuschlägt.« Eben das hatte einer der Gesprächspartner kritisiert.
Wann das exakte Strafmaß verkündet wird, wagt derzeit niemand zu sagen. Denn dem Richter bleibt es überlassen, wie viel er von der schriftlichen Urteilsbegründung mündlich vorträgt. Womöglich folgt der Spruch am Donnerstag, in Russland der letzte Arbeitstag im alten Jahr. Denn um die Jahreswende, spekulieren manche, fällt der Aufschrei im Westen, wo der Fall Chodorkowski als Lackmustest für Rechtstaatlichkeit gilt, womöglich nicht gar so laut aus. In Russland selbst haben nach einer Umfrage des Lewada-Instituts 65 Prozent der Bevölkerung den Prozess überhaupt nicht verfolgt.
* Aus: Neues Deutschland, 28. Dezember 2010
Zurück zur Russland-Seite
Zurück zur Homepage