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Russlands Präsident streitet nicht mit dem US-Vizepräsidenten

Wladimir Putin ist in seiner Rede zur Lage der Nation nicht auf Cheneys Ausfälle eingegangen - Es geht auch um die Zukunft der G8

Von Dmitri Kossyrew*

Am Vortag der alljährlichen Botschaft von Russlands Präsident Wladimir Putin an die Föderalversammlung geschah es, hatte der Kreml einen recht wesentlichen Informationsverlust gleichsam organisiert. Ein Sprecher spielte darauf an, dass die Botschaft "möglicherweise" eine Antwort auf die Erklärung enthalten werde, die der US-Vizepräsident Dick Cheney vor kurzem beim Gipfeltreffen der Ostsee- und der Schwarzmeerstaaten in Vilnius abgegeben hat. Cheney hatte dort die Führung Russlands beschuldigt, "ungerecht und inkorrekt die Rechte des russischen Volkes in Fragen der Demokratie zu beschränken", außenpolitisch Erdöl und Naturgas als Erpressungs- und Einschreckungsinstrument zu verwenden sowie "die territoriale Integrität eines Nachbarlandes zu unterminieren oder sich in demokratische Bewegungen einzumischen".

Von Anfang an kam der Verdacht auf, dass mit diesem "Durchsickern" etwas nicht stimmte, gleicht es doch eher einer elegant organisierten Desinformation. Der Präsident einer Weltmacht würde mit dem Vizepräsidenten einer anderen Weltmacht wohl kaum polemisieren, und schon gar nicht in einer alljährlichen Botschaft. Und das geschah in dem Marmorsaal, in dem Putin sprach, tatsächlich nicht. Mehr noch, auch ohne Cheney wurde die Außenpolitik in der einstündigen Rede des Präsidenten kaum berührt. Natürlich könnte man dazu Wladimir Putins sehr ausführliche Äußerungen über die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Wirtschaft rechnen (ein Thema, das von einer seiner alljährlichen Botschaften auf eine andere übergeht). Oder die ins Einzelne gehenden Abschnitte zur Verteidigung, zur nationalen Sicherheit, zu den Militärausgaben Russlands und der anderen Länder, zum globalen Wettrüsten und der Verbreitung von Kernwaffen. Aber das in der Botschaft wesentlichste Thema Demografie und die damit zusammenhängenden Aufgaben im nationalen Gesundheitswesen und in den sozialen Programmen Russlands gehören nun wirklich nicht zur Außenpolitik.

Vizepräsident Cheney muss sich also mit der Antwort des russischen Außenministers Sergej Lawrow auf seine Ansprache begnügen. Er bezeichnete einige der Äußerungen Cheneys als eine "Lästerung" und erinnerte daran, dass "Anfang der 90er Jahre um den Preis des Lebens russischer Friedensstifter das Blutvergießen in Georgien und Moldawien eingestellt und dadurch die territoriale Integrität dieser Staaten gerettet wurde". Und Lawrow verwies darauf, dass Moskau in den letzten 40 Jahren keinen einzigen seiner Verträge über die Öl- und Gaslieferungen an das Ausland verletzt hat.

Damit ist die Geschichte jedoch noch nicht zu Ende, denn Cheneys Rede in Vilnius wird in zahlreichen Kommentaren mit dem in diesem Sommer bevorstehenden Vorsitz Russlands auf dem G8-Gipfel in Sankt Petersburg in Zusammenhang gebracht. Cheney habe Russland angeblich gewarnt: Wenn ihr eure Politik nicht ändert, dann werdet ihr sowohl den Gipfel als auch die Mitgliedschaft in der G8 verlieren. Schon nicht das erste Gipfeltreffen Wladimir Putins wird von einer selten wütenden propagandistischen Artillerievorbereitung begleitet, an der allerdings häufiger Experten und Journalisten als Regierungsmitglieder des einen oder anderen Landes teilnehmen. Wie die bisherigen Erfahrungen lehren, wird kurz vor solchen Ereignissen fortwährend behauptet, der Gipfel werde nicht stattfinden, falls Moskau diese oder jene Sammlung politischer Forderungen nicht erfülle. Russischerseits jedoch wird eine solche Kampagne für gewöhnlich nicht weiter beachtet. Und im Ergebnis verläuft auf dem Gipfeltreffen gewöhnlich alles erstaunlich erfolgreich, als wäre nicht erst eine Woche zuvor diesem Ereignis ein katastrophaler Ausgang vorhergesagt worden.

Versuchen wir es mit einer Prognose: Was geschieht, wenn sich jemand der führenden Politiker der G8 tatsächlich vornimmt, in Sankt Petersburg anstatt jener Tagesordnung, die Russland dem Gipfel vorschlägt, von der russischen Demokratie oder der Rolle von Moskau in Eurasien zu reden? (Eben das gilt jetzt als der Sinn der Äußerungen von Cheney und vielen anderen seiner Gleichgesinnten.)

Nichts wird geschehen. Denn die Schlussergebnisse werden in diesem Klub im Konsens angenommen.

Überdies würde die G8 ihrem globalen Ruf Schaden zufügen. Russland schlägt nämlich vor, beim Gipfel die internationale Energiesicherheit ebenso wie die Fragen des globalen Bildungswesens und der Seuchenbekämpfung zu erörtern. Es liegt im Interesse aller acht führenden Politiker, zu diesen Problemen ein Dokument anzunehmen und, so es das Glück will, ihm auch noch in ihrer realen Politik zu folgen.

Mehr noch, Russland als die Weltmacht Nr. 1 im Bereich der Erdöl- und Erdgasgewinnung wird auch ohne die G8 eine Politik verfolgen, wie es sie auf dem betreffenden Gebiet heute verfolgt. Diese Politik setzt die Verantwortung des Lieferanten der Energieressourcen, wie auch der Transitländer, für die Wirtschaftsentwicklung der Empfängerländer voraus. Und dementsprechend ist eine vernünftige gemeinsame globale Politik in diesen Bereichen gemeint.

Ferner. Was geschieht, wenn, wie die radikalsten Experten vorhersagen, der Gipfel von 2008 überhaupt nicht stattfindet? Wiederum: Es wird nichts Wesentliches geschehen - außer der Tatsache, dass sich die G8 selbst über beide Aspekte ihrer Lage im System der Weltpolitik endlich klar wird.

Die Gründe dessen, was sich abspielt, liegen natürlich in der tiefen Krise nicht nur der G8 als solcher, sondern auch des Westens als eines politischen Ganzen, das als führende Kraft der weltweiten Entwicklung an Einfluss verliert. Die neuen führenden Kräfte - Indien, China - gehören der G8 nicht an, obwohl ihre höchsten Politiker nicht erst seit einem Jahr zu ihren Sitzungen als Gäste eingeladen werden. Russland steht hinsichtlich seiner Rolle in der Welt Indien oder China näher als den USA oder England, aber dank günstiger Umstände ist Russland Mitglied des Klubs, obwohl es in politischer Hinsicht seinen übrigen sieben Mitgliedern nicht näher gerückt ist und dies wohl auch kaum tun wird.

Eine Wahl steht bevor: entweder diesen Klub zum Rat aller realen führenden Kräfte der Weltwirtschaft zu erheben, zu diesem Zweck China und Indien (möglicherweise auch Südafrika und Brasilien) aufzunehmen und hierbei vom politischen Wesen des einen oder anderen Landes abzusehen. Dann ist Russlands Mitgliedschaft in diesem Klub eine Chance für die G8. Oder aber die G8 in das Gehirnzentrum des "Westens" im Kampf gegen die "Neulinge" der Weltwirtschaft umzuwandeln. Dann aber hat Russland darin nichts zu tun.

Beide Lösungen sind logisch. Inzwischen aber hängt die G8 genau in der Mitte zwischen diesen zwei Extremen, und eine solche Position ist schwerlich als logisch zu bezeichnen.

Doch das betrifft in keiner Weise die Probleme von Russlands Zukunft, über die Wladimir Putin in seiner Botschaft an die Föderalversammlung gesprochen hat.

MOSKAU, 11. Mai

* Russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti


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