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Staatlich verordnetes Unwissen

Demonstrationen gegen Bildungspolitik in Rußland

Von Andreas Korn, Moskau *

Am vergangenen Donnerstag haben in Rußland Hunderte Menschen gegen neue Gesetze über Lehrpläne und die Finanzierung von Schulen demonstriert. Eine Kundgebung auf dem Moskauer Puschkin-Platz endete mit einer symbolischen Desinfektion gegen die »Reform-Epidemie«. Eine der Organisatorinnen der Demonstration gegen die Kommerzialisierung von Ausbildung, Galina Schneider von der Bewegung Moskauer Eltern, sprühte ein Porträt von Bildungsminister Andrej Fursenko mit weißer Farbe ein. Viele der 300 Kundgebungsteilnehmer trugen medizinische Schutzbekleidung als symbolischen Schutz gegen die »Epidemie«. Protestaktionen gegen die neoliberale Bildungsreform fanden auch in Ulan Ude und Jekaterinenburg statt. Das staatliche Fernsehen berichtete nicht über die Aktionen.

Die Politik der russischen Regierung im Ausbildungsbereich hat in den letzten Jahren zu heftigen Debatten geführt. Kritisiert wird die Einführung des landesweit einheitlichen Abschlußexamens »EGE«, das Wissen nur noch nach einer Checkliste überprüft. In der Kritik stehen zudem die Kürzung von Stipendien und die geplante Einführung einer Staffelung der Gehälter für Lehrer. Sie sollen künfitg nach der individuellen Leistung bezahlt werden, was zu zu noch größeren Einkommensunterschieden führen würde als bisher. Bereits jetzt verdienen Lehrer in Rußland zwischen umgerechnet 180 Euro in der Provinz und 1250 Euro in Moskau.

Im Zentrum der Debatten und öffentlichen Proteste stehen außerdem die Pläne der Regierung, nur noch einen Teil der Ausbildung an den Schulen kostenfrei zu garantieren. Ein neues Gesetz sieht vor, daß Schulen, Bibliotheken und andere staatlich finanzierte Einrichtungen in Zukunft mit eigenem Budget haushalten müssen. Die Schulen sollen von den Eltern Geld für Vertiefungs-, Spiel- und Sportkurse der Kinder verlangen können. Dies ist heute schon an vielen Schulen Praxis, ohne daß es dafür bisher eine legale Grundlage gab.

Die Regierung flüchtet sich angesichts der Kritik an den Plänen zur Schulreform in Ausreden. Staatssekretär Igor Remorenko wies die Kritik der Reformgegner gegenüber der Tageszeitung Kommersant als »erfunden« zurück. Die Fächer Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Sport, Russische Sprache und Literatur werde der Staat weiter finanzieren.

Eine geplante Einschränkung der Pflichtfächer in den Abgangsklassen hat die Regierung nach Protesten von Eltern und Lehrern zurückgenommen. Danach sollten gegen Ende der Schulausbildung nur noch vier Fächer obligatorisch sein: »Rußland in der Welt«, Katastrophenschutz, Sport und ein frei wählbares Fach. Auf Initiative des Moskauer Russischlehrers Sergej Wolkow hatten 23000 Personen im Februar in einem offenen Brief an den russischen Präsidenten die Rücknahme dieser Einschränkung gefordert. Die Unterzeichner fürchteten einen weiteren Qualitätsverlust der Ausbildung. Nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada waren 37 Prozent der Befragten der Meinung, daß sich die Ausbildung im letzten Jahr verschlechtert hat.

Unzufrieden mit der Bildungspolitik der Regierung sind aber nicht nur die Betroffenen selbst. Der Oligarch Michail Prochorow erklärte Ende August, die Schulen bildeten am Bedarf vorbei aus. Der Arbeitsmarkt in Rußland verlange heute nicht mehr als zwanzig Prozent höher Qualifizierte. Diese zwanzig Prozent müßten jedoch besser ausgebildet werden.

* Aus: junge Welt, 20. September 2011


Prochorows Höhenflug endet jäh

In Russlands Vorwahlkampf spaltet sich die »Rechte Sache«

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Multimilliardär Michail Prochorow hatte zum steilen politischen Höhenflug angesetzt. Gelandet ist er in der vergangenen Woche auf dem Boden der russischen Tatsachen.

Erst Ende Juni hatte Michail Prochorow (Foto: AFP) die Führung der im Koma liegenden neoliberalen Partei »Rechte Sache« übernommen. Sie sollte bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember die Stimmen des Großkapitals bündeln. Präsident Dmitri Medwedjew hatte das Vorhaben abgesegnet und Prochorow sogar im Kreml empfangen. Und das Justizministerium hatte die Neugründung in Rekordtempo legalisiert.

Der Wahlparteitag in der vergangenen Woche aber endete mit einem Eklat. Zuerst feuerte Prochorow die gesamte alte Führungsriege. Die berief daraufhin einen Gegenparteitag ein, setzte die alten Statuten wieder in Kraft und Prochorow als Parteichef ab. Rein juristisch, urteilte eine Beobachterin des Justizministeriums, sei das in Ordnung. Die Folge: Prochorows Gegner behalten Namen und Zulassung der Partei, können also bei den Parlamentswahlen antreten. Prochorow dagegen, der nun eine »echte Oppositionspartei« gründen will, bleibt aus Zeitgründen diesmal von den Wahlen ausgeschlossen.

Zugelassen als Parteien wurden in den letzten zehn Jahren nur »Kremlprojekte« – gegründet, um der Regierungspartei als Hilfstruppen die Stimmen jener zuzuführen, die die eigentliche Hausmacht des Präsidenten aus diesen oder jenen Gründen nicht wählen mochten, oder um die KP zu schwächen. Nie lebten sie länger als eine Legislaturperiode. Dass ein »Kremlprojekt« schon in der Startphase den Geist aufgab, ist allerdings neu in der russischen Politik und könnte für Überraschungen im Wahlkampf sorgen. Denn Kreml-Astrologen werten den Eklat als Ausdruck des Machtkampfs zwischen Medwedjew und Regierungschef Wladimir Putin.

Wortführer der Prochorow-Gegner ist jener Andrej Bogdanow, der zusammen mit Expremier Michail Kasjanow einst die Demokratische Partei gründete, deren Führung an sich riss und dann mit Prochorows Liberalen fusionierte. Als Autor des Masterplans gilt jener Mann, der auch andere »Kremlprojekte« erdachte: Wladislaw Surkow, der von Putin zum Vizechef der Präsidialverwaltung erhöht wurde und sein Amt auch unter Medwedjew behielt. Prochorow nennt ihn einen »Puppenspieler, der das gesamte politische System privatisiert hat«, und fordert seine Entlassung.

Putin schweigt, Medwedjew auch. Obwohl Prochorows Niederlage angeblich auch seine ist. Mit Prochorow, sagen manche, hätten die Liberalen bis zu 25 Prozent der Duma-Sitze bekommen – und Medwedjew endlich eine eigene Hausmacht.

** Aus: Neues Deutschland, 20. September 2011


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