Tschetschenien: Abstimmung ohne Wahl - Die Chance, am Leben zu bleiben
Interview mit der Menschenrechtlerin Lipchan Basajewa
Die Verhältnisse im Bürgerkriegsland Tschetschenien sind in den letzten Monaten weitgehend in Vergessenheit geraten. Die Schweizer Wochenzeitung WoZ veröffentlichte am 8. Mai 2003 ein hochinteressantes Interview mit der Menschenrechtlerin Lipchan Basajewa, das wir im Folgenden in Auszügen dokumentieren. Die Fragen stellte Judith Huber.
                    WoZ: Die Tschetscheninnen und Tschetschenen haben die neue
                    Verfassung in einem Referendum Ende März überraschend deutlich
                    angenommen - selbst wenn man davon ausgeht, dass die
                    Abstimmung gefälscht wurde. Haben sie sich mit den von Russland
                    vorgegebenen Regeln abgefunden?
                    Lipchan Basajewa: Es gibt eine Methode, die Militärs anwenden, um
                    Geständnisse zu erzwingen. Sie legen Gefangenen ein unbeschriebenes
                    Blatt Papier vor und fragen: Wirst du unterschreiben? Der Mensch soll
                    etwas unterschreiben, von dessen Inhalt er keine Ahnung hat. Sie sagen
                    ihm: "Du unterschreibst, und dann sperren wir dich vielleicht ein. Doch du
                    hast eine Chance, zu überleben. Aber wenn du nicht unterschreibst, dann
                    bringen wir dich um." Der Gefangene wählt die Chance, zu leben. Das wird
                    dann "freie Wahl" genannt. Tschetschenien hat "frei" das gewählt, was
                    gar nicht zur Wahl stand. Die Leute mussten sich entscheiden: das
                    Referendum oder das Leben. In Grosnyj wurden vor dem Abstimmungstag
                    Spruchbänder mit folgenden Parolen aufgehängt: "Das Referendum
                    bedeutet Frieden" und "Das Referendum ist die Chance, am Leben zu
                    bleiben". Man muss die Leute, die stimmen gingen, richtig verstehen. Sie
                    haben diese Chance beim Schopf gepackt. Sie haben lieber dem
                    Referendum zugestimmt, als weitere Säuberungen zu erleben. Aber die
                    offiziellen Zahlen, nämlich dass 95 Prozent dem Referendum zugestimmt
                    haben, sind falsch. Wir haben Wahlfälschungen dokumentiert. Ausserdem
                    haben russische Soldaten an der Abstimmung teilgenommen. (...)
                    
Unter welchen Bedingungen leben die Flüchtlinge, die aus Lagern
                    in den Nachbarländern nach Tschetschenien zurückgekehrt sind? 
                    Tschetschenische Flüchtlinge in Inguschetien wurden letztes Jahr mit
                    Versprechen von Kompensationen und Wiederherstellung ihrer Häuser,
                    aber auch mit Druck zur Rückkehr bewegt. Zelte wurden abgebrochen,
                    Strom und Gas abgestellt und die wenige humanitäre Hilfe eingestellt.
                    Russische Offiziere und leitende Vertreter der Migrationsbehörde aus
                    Moskau reisten in die Lager und schüchterten die Flüchtlinge ein. (...) 
                    In Tschetschenien wurden die Versprechungen nicht eingelöst. Etwa zehn
                    Prozent der Flüchtlinge wurden in speziellen Aufnahmezentren
                    untergebracht, die anderen wurden ihrem Schicksal überlassen und
                    mussten in zerstörte Häuser und Wohnungen zurückkehren. Sie haben
                    keinen einzigen Rubel für den Wiederaufbau erhalten. Eine
                    Flüchtlingsfamilie kehrte im November nach Alchan-Kala zurück. Einen
                    Tag danach brachten Soldaten die Bürgermeisterin des Ortes in ihrem
                    Haus um. Voller Panik flüchtete die Familie erneut. Die Flüchtlinge, die
                    zurückgekehrt sind, haben die Unterstützung in Inguschetien verloren und
                    keine reale Hilfe in Tschetschenien gefunden. (...)
(…)
                    Kurz nach dem Referendum wurde ein Bus mit tschetschenischen
                    Arbeitern in die Luft gesprengt. Führen die tschetschenischen
                    Kämpfer einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung? 
                    Ich weiss nicht, wer für die Tat verantwortlich ist. Diese Bauarbeiter
                    befanden sich aber in einer speziellen Situation. Sie arbeiteten auf dem
                    russischen Stützpunkt Chankala. In den Gebäuden, die sie bauten, werden
                    Tschetschenen gefoltert. Deshalb werden die Leute, die dort arbeiten, von
                    den Kämpfenden als Helfershelfer der Feinde betrachtet. Aber die
                    Bauarbeiter haben diese Arbeit angenommen, um Geld zum Leben zu
                    verdienen. In Tschetschenien ist es sehr schwierig, bezahlte Arbeit zu
                    finden.
                    Stimmt es, dass die tschetschenischen Kämpfer Verbindungen zu
                    al-Kaida unterhalten und arabische Freiwillige an ihrer Seite
                    kämpfen? 
                    Das ist schwierig zu sagen. Wir sind Menschenrechtler, wir haben keinen
                    Kontakt mit der kämpfenden Seite. 
                    Aber etwas müssen die Menschen, die in Tschetschenien leben,
                    doch beobachten? 
                    Die Leute wissen nichts. Was ich sagen kann, ist Folgendes: Schon
                    häufig wurden am Fernsehen angebliche Araber präsentiert - Mitglieder
                    von al-Kaida oder Helfer von Chattab (einem aus Jordanien oder
                    Saudiarabien stammenden Feldkommandanten in Tschetschenien). In
                    einem Fall, den ich genau kenne, war der präsentierte Araber ein
                    Tschetschene, ein Taxifahrer, der eines Tages an einem russischen
                    Checkpoint aus seinem Auto rausgeholt und verschleppt wurde. Seine
                    Angehörigen suchten ihn. Zwei Tage später zeigte das Fernsehen den
                    Gesuchten in einer Tarnuniform, die ihm nicht einmal passte, gefesselt am
                    Boden liegend. Der russische General Gennadij Troschew bezeichnete ihn
                    als "Helfer Chattabs" und nannte ihn mit einem arabischen Namen. (...) Mit der Argumentation von der Verbindung zu al-Kaida und zum
                    internationalen Terrorismus versucht die russische Regierung ihre Politik
                    zu rechtfertigen. 
                    Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat die
                    Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshofes für
                    Tschetschenien gefordert. Was halten Sie davon? 
                    Es ist eine sehr gute Idee. (...) Ich denke, dass es
                    nötig ist, die Verbrecher in den Machtpositionen zur Rechenschaft zu
                    ziehen. Vielleicht wird es kein solches Tribunal geben, aber es ist
                    notwendig, Russland dazu zu bringen, die Gesetze in Tschetschenien zu
                    beachten. Vielleicht verwandelt sich die Idee des Tribunals ja in eine
                    andere Form der Einwirkung auf Russland.
                    Was für eine Rolle spielt der gewählte tschetschenische Präsident
                    Aslan Maschadow heute noch? 
                    Solange es keinen Frieden gibt, spielt Maschadow noch eine Rolle. Aber
                    wenn der Krieg aufhört, wenn die russische Regierung beschliesst,
                    Verhandlungen zu führen und gesetzeskonforme Wahlen abhält, dann wird
                    seine Position infrage gestellt. (...) Jetzt gibt es
                    neue Wahlen, und die Regierenden erfinden jetzt eine Idee, mit der sie die
                    neuen Wahlen gewinnen werden.
                    Was soll das sein? 
                    Das Referendum ist die Idee eines Scheinfriedens. Bisher galt die Losung
                    der angeblichen antiterroristischen Operation, und diese wurde nun durch
                    den Scheinfrieden abgelöst. Dieser angebliche Friede wird aus
                    Bombenexplosionen, Überfällen und Verschleppungen bestehen. Doch die
                    Propaganda wird lauten, dass mit dem Referendum Tschetschenien Teil
                    Russlands geblieben ist und dass die Stabilität in Tschetschenien wächst.
                    Auf jeden Fall wird Putin behaupten, dass in Tschetschenien Frieden
                    herrscht. (...)
                    Gibt es Leute, die vom Krieg profitieren? 
                    Das gibt es. Der Krieg dauert bereits dreieinhalb Jahre. In dieser Zeit ist
                    eine eigene Kriegsinfrastruktur entstanden. Eine grosse Zahl von
                    Menschen in Moskau und in Tschetschenien - Militärs und die Beamten
                    der prorussischen Verwaltung - beziehen ihre Einkünfte aus dem Krieg.
                    Keiner will darauf verzichten. Jede Nacht verlassen Lastwagen mit illegal
                    gefördertem Erdöl Tschetschenien. Daran verdienen Tschetschenen, die
                    das Öl fördern, und russische Militärs, die diese Lastwagen passieren
                    lassen. Ein Teil der Gelder, die im russischen Budget für den
                    Wiederaufbau Tschetscheniens vorgesehen sind, wandert in die Taschen
                    der Behörden. Russische Militärs betreiben ein blühendes Business mit
                    Verschleppten, die von Verwandten freigekauft werden. Russische
                    Checkpoints kassieren von den Durchfahrenden Wegzoll. All diese Leute
                    haben ein Interesse daran, dass der Krieg weitergeht.
Aus: WoZ, 8. Mai 2003
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