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Die Medwedew-Inventur

Der russische Präsident entwirft neue außenpolitische Richtlinien

Von Dmitri Kossyrew *

Die Liebhaber von Robert Ludlums weltbekannten Verschwörungsthrillern haben sicher erraten, wo die Überschrift dieses Kommentars herkommt: "Die Bourne-Identität", "Das Scarlatti-Erbe" usw.

In der durch und durch realen globalen diplomatischen Fabel unserer Tage erwarten die einen vom neuen russischen Präsidenten den vollen Verzicht auf Wladimir Putins Außenpolitik, die anderen ihre volle Inbesitznahme. Womit beschäftigt sich Medwedew inzwischen? Er macht Inventur des außenpolitischen Erbes: sowohl der Methoden der russischen Außenpolitik als auch all dessen, was sich in der globalen Politik insgesamt abspielt.

Gerade das Wort "Inventur" gebrauchte er in seiner Ansprache in der Aula des russischen Außenministeriums auf dem Smolenskaja-Platz, bei einer der regelmäßigen Beratungen der russischen Botschafter sowie Ständigen Vertreter bei internationalen Organisationen.

Das Wort bezog sich freilich auf ein eng begrenztes Thema: die heutigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, vor allem im Bereich der Sicherheit, die "nicht an einem dünnen seidenen Faden hängen darf", wie Medwedew sagte.

"Vor allem lohnt es sich vielleicht das Erbe zu inventarisieren, das uns hinterlassen worden ist, darunter die Helsinki-Schlussakte und die wichtigsten Dokumente des Zusammenwirkens Russland - Nato", sagte der Präsident. Er schlug vor, zu untersuchen, warum die diesen Dokumenten zugrunde liegenden Sicherheitsprinzipien nicht mehr befolgt werden. Und darauf entweder zu ihrer Verwirklichung zurückzukehren oder aber neue Prinzipien zu finden.

Heißt das, dass wir es hier mit einer neuen, "medwedewschen" Außenpolitik zu tun haben? Damit ein Hochsee-Supertanker wendet, muss er einen Bogen mit einem Radius von mehreren Kilometern beschreiben - das erfordert das Trägheitsgesetz seiner Fahrt. Ebenso steht es um die Außenpolitik einer globalen Macht. Aber im Allgemeinen sagt niemand, dass Russlands neuer Präsident hier nach scharfen Wendungen strebe oder gar solche anbefehle. Es geschieht etwas anderes: Die Welt verändert sich und erfordert neue Lösungen.

Schauen wir uns zum Beispiel ein recht effektvolles und in seiner Art bemerkenswertes Dokument an. Das neue Konzept über die russische Außenpolitik wurde von Medwedew bereits am 12. Juli bestätigt, doch ins russische Blickfeld geriet es erst, nachdem es der Präsident bei der Botschafterberatung auf dem Smolenskaja-Platz erwähnt hatte.

Wer mit dem Tempo der Abfassung und Durcharbeitung solcher Dokumente vertraut ist, versteht: Natürlich wurde mit der Ausarbeitung des Konzepts schon während Putins Präsidentschaft begonnen. Genauso wie Putin seinerzeit ein ebensolches Konzept von seinem Vorgänger geerbt hatte (es wurde am 28. Juni 2000 bestätigt).

Äußerst interessant ist ein Vergleich der Texte dieser zwei Dokumente. Das frühere Konzept spiegelte die Realitäten von Ende der 90er Jahre wider, als Boris Jelzin Jugoslawien vor den Luftangriffen zu retten versuchte und in seiner Umgebung klagte: "Wir schlagen mit der Faust auf den Tisch, aber auf uns wird nicht gehört."

Das Leitmotiv des alten Konzepts war wenn nicht Russlands außenpolitischer Isolationismus, so doch eine gewisse Bescheidenheit, das Prinzip sparsamer Anstrengungen: Wir versuchen nicht, bei allen internationalen Ereignissen mitzumischen, wir tun das nur dann, wenn es für uns tatsächlich notwendig ist und wir zudem eine Chance haben, uns durchzusetzen.

Das heutige Konzept beruht auf einem anderen Fundament. Hier ein Zitat aus dem wichtigsten, einleitenden Teil: "Die Evolution der internationalen Beziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts und Russlands Festigung haben es notwendig gemacht, die allgemeine Situation um das Land auf neue Weise zu sehen, die Prioritäten der russischen Außenpolitik mit Rücksicht auf die gewachsene Rolle des Landes in den internationalen Angelegenheiten auszurichten ... und die sich in diesem Zusammenhang bietenden Möglichkeiten umzudenken und nicht nur an der Realisierung, sondern auch an der Gestaltung der internationalen Tagesordnung teilzunehmen."

Hierin besteht der wichtigste Unterschied zwischen den zwei Konzepten - und den zwei Epochen.

Beliebige Dokumente solcher Art sind natürlich weitschweifig und deklarativ. Zudem sind sie, wenn wir das Kind beim Namen nennen, nicht für alle und jeden bestimmt, vielmehr sollen sie der "politischen Klasse" Orientierungszeichen setzen.

Doch ist es das heutige Konzept durchaus wert, nicht nur von Profis aufmerksam gelesen zu werden. Beispielsweise in dem Teil, worin die Rede von einer "Netzdiplomatie" ist, von der die "Blockdiplomatie" allmählich abgelöst wird. Eine absolut stichhaltige Idee: Die ständig funktionierenden "Lager" mit ihrer internen Disziplin sind heute wirkungslos, die Länder bilden gewisse Gruppen zwecks Lösung konkreter Fragen: Iran, Nordkorea, Nahost. Wir leben in einer anderen Welt und stellen uns nicht sehr gut vor, wie kompliziert sie ist.

Oder in dem Passus, in dem die neuen Spielregeln in der globalen Konkurrenz erwähnt werden: Heute handelt es sich um die Konkurrenz verschiedener Entwicklungsmodelle und unterschiedlicher Wertorientierungen. Auch das ist sehr treffend beobachtet und gibt der russischen Außenpolitik eine Masse von neuen Möglichkeiten.

Alles in allem: ein sehr kluges und ernst zu nehmendes Dokument. Obwohl natürlich nicht ohne die obligate ermüdende Aufzählung der Länder und Regionen, mit denen Russland die Beziehungen entwickeln wird: Das ist nun einmal üblich. Aber hinter den Details darf nicht das Ganze übersehen werden.

Das Russland des früheren Konzepts wagte sich an einen nur sehr eng begrenzten Kreis von Angelegenheiten heran. Das heutige Konzept fixiert die Aufgabe der Formung einer neuen Welteinrichtung, eine Aufgabe, die ohnehin bereits erfüllt wird. Und das ist gemäß der Verfassung eine Aufgabe Dmitri Medwedews als des Menschen, der die Richtungen unserer Außenpolitik festlegt.

In der Aula des russischen Außenministeriums erinnerte der Präsident an seine im Grunde erste Aktion in die westliche, europäische Richtung: daran, was er während seines vor kurzem abgestatteten Deutschland-Besuchs vorgeschlagen hat. Die Rede ist von einer Art "Helsinki-2", nach dem Beispiel der Helsinki-Konferenz von 1975, die damals beinahe für ein Vierteljahrhundert das Fundament für die Sicherheit auf dem Kontinent legte.

Jetzt, in Deutschland, hat Medwedew einen neuen juristisch bindenden Vertrag über die europäische Sicherheit vorgeschlagen. Daran könnten alle europäischen Staaten gleichberechtigt teilnehmen: "nicht als Staaten, die zu Vereinigungen und Blöcken gruppiert sind, sondern eben als Staaten, als souveräne Strukturen". Das bedeutet: vom reinen Blatt anzufangen.

In der Aula des Außenministeriums erwähnte der Präsident, dass die erste Reaktion auf seine Initiative "zumindest neutral" und "in gewisser Hinsicht ermutigend" sei. Denn nicht nur Moskau macht Inventur der Situation in der Welt. Jetzt erst, mit dem Amtsantritt eines neuen russischen Präsidenten, wäre es durchaus an der Zeit, nach grundsätzlich neuen Lösungen zu suchen.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 16. Juli 2008; http://de.rian.ru



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