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Von Tschetschenien lernen

Russland diskutiert weitere Einschränkungen von Alkoholkonsum

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Von Tschetschenien lernen, heißt womöglich siegen lernen. Ausgerechnet Ramzan Kadyrow, der Verwaltungschef der einstigen Rebellenrepublik, hat Teufel Alkohol in seinem Beritt niedergerungen und empfiehlt dem Rest des Landes, seinem Beispiel zu folgen.

Wodka darf in Tschetschenien nur noch zwei Stunden täglich verkauft werden: morgens zwischen 8 und 10 Uhr. Parallel dazu setzt die Regionalregierung auf einen Mix zwischen Propagierung von gesunder Lebensweise und einem umfangreichen Angebot von Sport- und Freizeitaktivitäten. Vor allem für junge Männer, die als besonders gefährdet gelten. Und auf soziale Ächtung von Sündern. Betrunkene, so Kadyrows Pressechef Alwi Karimow mit stolzgeschwellter Brust im hiesigen Fernsehen, gäbe es in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny im Straßenbild nicht mehr. Wenn doch, seien es Gäste. Denn unter Einheimischen gelte Trunkenheit inzwischen als »extrem unanständig«.

Sogar bei der kürzlichen Einweihung von Grosny-City - einer Shopping Mall die an Dubai erinnert und sogar die Moskowiter vor Neid erblassen ließ, gab es nur Granatapfelsaft und Limonade. Jedenfalls beim offiziellen Teil.

Alkohol, sagte Kadyrow dem Massenblatt »Komsomolskaja Prawda«, bringe die Bevölkerung Russlands um. Der Staat habe sich dennoch nicht zu einem Verbot aufraffen können, weil die Schnapsfabrikanten ein starke Lobby haben und dem Haushalt die Einnahmen aus der Fuselsteuer fehlen würden. Die, konterte das Finanzministerium, würden sich mit ganzen 56,2 Milliarden Rubel - ca. 1,3 Milliarden Euro - sehr in Grenzen halten.

Kollegen aus anderen Ressorts konnten dem Kadyrow-Plan durchaus Charme abgewinnen. Zumindest, was die Ausweitung der Verkaufsbeschränkungen angeht. Die fallen in die Kompetenz der Regionen, und in vielen gilt seit etwa einem Jahr bereits ein Verkaufsverbot von 23 bis 11 Uhr. In Uljanowsk an der Wolga darüber hinaus auch sonntags. Für die meisten unter Alkoholeinfluss begangenen Straftaten, behaupten Ermittler wie Psychologen, sei Wodka verantwortlich, der sehr früh, sehr spät und an Feiertagen gekauft wurde.

Verbote seien der falsche Weg, warnen Experten. Schwarzbrennen würde damit definitiv zum Massensport, auch sei mit sprunghaftem Anstieg von Vergiftungen durch gepanschtes Gesöff zu rechnen. Dabei ist die Statistik schon jetzt rekordverdächtig. Ebenso die Menge an reinem Alkohol, den Mischa Mustermann jährlich konsumiert: zwischen 15 und 18 Litern.

Zügeln lasse sich der kollektive Durst nur über die Preispolitik, glaubt Senator und Ex-Sozialminister Alexander Potschinok. Die Preise für Wodka - derzeit ist die Pulle schon für umgerechnet 2,50 Euro zu haben und damit so billig wie nirgendwo sonst auf der Welt - müssten drastisch angehoben, die für guten trockenen Wein, der derzeit mindestens zehn Euro kostet - dagegen auf 100 bis 150 Rubel (2,50 bis 3,50 Euro) abgesenkt werden.

Ähnlich sieht das auch Russlands Oberster Verbraucherschützer Gennadi Onnischtschenko. Er konnte sich sogar Endverbraucherpreise von umgerechnet hundert Dollar vorstellen, was für die Masse de facto auf ein indirektes Totalverbot hinauslaufen würde. Das wagte indes nicht einmal »Mineralsekretär« Michail Gorbatschow, wohl aber Nikolaus II., Russlands letzter Zar. Er sah die Volksgesundheit schon akut gefährdet, als der jährliche Fuselkonsum bei ganzen fünf Litern pro Nase lag und untersagte im Juli 1914 den Ausschank und Verkauf von Wodka wie von Wein. Als die Bolschewiki den Ukas 1923 kippten, lag der Pro-Kopf-Verbrauch unter einem Liter. Nie zuvor und nie danach, so Verbraucherschützer Onnischtschenko, seien die Knäste leerer gewesen, habe es weniger Morde und Selbstmorde gegeben.

* Aus: neues deutschland, 18. Oktober 2011


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