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Postsowjetische Schicksalsgemeinschaft

20 Jahre nach dem offiziellen Ende der UdSSR

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Vor 20 Jahren, am 25. Dezember 1991, wurde die Flagge der Sowjetunion über dem Moskauer Kreml eingeholt, Präsident Michail Gorbatschow trat zurück, die UdSSR gab es nicht mehr.

Ferhad lässt sich nicht lumpen: Es gibt Plow mit viel Hammelfleisch, als sich seine Baumwollpflücker zum Mittagessen unter hohen Bäumen niederlassen. Und die besten Arbeiter bekommen nach der Ernte Prämien: Fernseher, Kühlschränke, Waschmaschinen. Ferhad, der 50 Hektar Land besitzt, ist der größte Arbeitgeber in Hadra, einem Dorf im Westen Usbekistans. Seine Arbeiter reden ihn mit Bey an. Herr bedeutet das Wort. Und die meisten Dörfler sind froh, dass sie wieder einen Herrn haben. Denn der Landeigentümer hat laut Koran Fürsorgepflicht für seine Hintersassen.

Noch vor zwanzig Jahren waren Worte wie Herr und Diener in Usbekistan Unworte. Zumindest offiziell. Doch die einstige Sowjetrepublik ist nach Unabhängigkeitserklärung und Systemwechsel 1991 sehr schnell wieder zu dem Gesellschaftsmodell zurückgehrt, wie es vor 1920 bestand, bevor die Sowjetmacht auch in Zentralasien gesiegt hatte. Auch die anderen Unionsrepubliken haben sich längst von den Idealen einer klassenlosen Gesellschaft von Brudervölkern verabschiedet und landen bei der Suche nach eigener nationaler Identität und einem Weg in die Zukunft meist tief in der vorrevolutionären Vergangenheit.

Dennoch: Einfach so werden die einstigen Partner der Schicksalsgemeinschaft die jeweils anderen nicht los. Verkehrssprache ist nach wie vor Russisch, oft sogar zweite Staatssprache. Vor allem in Zentralasien, wo die meist mit dem Türkischen eng verwandten Nationalsprachen schon im Zarenreich in die Schmuddelecke gestellt worden waren und und stagnierten. Ihre Wiederbelebung ist ein bis heute nicht abgeschlossener Prozess. Ein Akim, ein Landrat im Westen Kasachstans, wischte sich den Angstschweiß von der Stirn, als er einem deutschen Fernsehsender im Jahre 2005 ein Interview auf Kasachisch geben sollte.

Auch die Infrastruktur der meisten Republiken - Straßen, Bahnlinien oder Pipelines - ist nach wie vor so angelegt, dass alle Wege nach Russland führen. Dort arbeiten auch Millionen »Gastarbeiter« - die auch im Russischen so genannt werden - aus dem Kaukasus und aus Zentralasien. Und außer Litauen, Lettland, Estland und Moldova haben alle anderen ehemaligen Sowjetrepubliken - auch Georgien - das politische System Russlands kopiert und bei Demokratiedefiziten das Vorbild sogar um Längen geschlagen.

In Moskau suchen die meisten auch nach wie vor bei Unruhen und ethnischen Konflikten Recht und Beistand, wie 2010 im Süden Kirgistans. Streitobjekt sind Öl, Gas und zunehmend auch Wasser. In der Sowjetunion sorgte Moskau für Ausgleich, jetzt haben die souveränen UdSSR-Nachfolgestaaten auch die souveräne Verfügungsgewalt über ihre Ressourcen und setzen sie als Druckmittel gegen die Nachbarn ein. Das alles sind Probleme, mit denen die UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS hoffnungslos überfordert ist. Sie war ohnehin, als sie von zehn der einstmals fünfzehn Unionsrepubliken im Dezember 1991 gegründet wurde, nur als Kurzläufer gedacht: als Instrument zur zivilisierten Scheidung, wie Wladimir Putin, der den Untergang der Sowjetunion als eine der größten Katastrophen des 20 Jahrhunderts bezeichnete, es später formulierte.

Die Trennung ist bis heute nicht abgeschlossen, zu gemeinsamen Beschlüssen aber kann sich die derzeit aus elf Staaten bestehende Gemeinschaft auch nur selten aufraffen. Weil die UdSSR-Spaltprodukte inzwischen Entwicklungswege eingeschlagen haben, die einander ausschließen. Die Ukraine und vor allem Georgien, das nach dem Krieg mit Russland 2008 mit Getöse aus der GUS austrat, drängen in NATO und EU, in Moldova peilen einflussreiche Politiker als Fernziel die »Wiedervereinigung« mit Rumänien an, in Aserbaidshan denkt man an einen Bund türkischer Staaten

Auch die Loyalität der russlandfreundlichen GUS-Staaten gegenüber Moskau hat Grenzen. Belarus, Kasachstan, Armenien, Usbekistan, Tadshikistan und Kirgistan sind zwar Mitglied des von Russland dominierten Verteidigungsbündnisses Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit, lassen sich ihre Loyalität aber teuer bezahlen. Die russisch-belarussischen Verhandlungen über einen Unionsstaat schleppen sich inzwischen vierzehn Jahre hin, auch multilaterale Projekte zur wirtschaftlichen Reintegration traten lange auf der Stelle.

Licht am Ende des Tunnels wurde erst erkennbar, als sich Russland, Belarus und Kasachstan auf eine Zollunion einigten, die am 1. Januar 2012 in Kraft tritt. Sie ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem Eurasischen Wirtschaftsraum, der eine Frühform der Europäischen Gemeinschaft kopiert. Die nächsten Schritte bis zu einer Eurasischen Union könnten sich hinziehen. Zumal das westeuropäische Vorbild wegen der europäischen Schuldenkrise auch im postsowjetischen Raum zunehmend an Strahlkraft verliert.

* Aus: neues deutschland, 27. Dezember 2011


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