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"Rebellion der Nerzmäntel"

Jahresrückblick 2012. Heute: Rußland. Zur Freude des Westens verschärfen sich die gesellschaftlichen Spannungen

Von Werner Pirker *

Nachdem er zwischen 2008 und 2012 eine Auszeit nehmen mußte, wurde Wladimir Putin am 4. März mit 63,6 Prozent der Stimmen zum dritten Mal zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. Seine Mitbewerber waren von Beginn an chancenlos. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), Gennadi Sjuganow, der bei den Präsidentenwahlen 1996 Boris Jelzin an den Rand einer Niederlage gedrängt hatte, wurde mit 17,18 Prozent immerhin Zweiter, gefolgt vom Multimilliardär Michail Prochorow, der auf 7,98 Prozent kam. Rußlands Wähler sehen mehrheitlich offenbar keine Alternative zu Putins System der Machtvertikale. Die Kommunisten tragen das Stigma ihrer historischen Niederlage mit sich, und den Liberalen wird die im Jelzinschen Jahrzehnt praktizierte Schocktherapie mit ihren Bereicherungsexzessen bei gleichzeitiger Massenverelendung zur Last gelegt.

Die Hegemonie des Putin-Lagers läßt sich auch damit erklären, daß es seine Gegner ideologisch zu neutralisieren verstand. Von den Kommunisten übernahm es Elemente eines sowjetnostalgischen Patriotismus und die Idee der starken Staatlichkeit. Den reaktivierten Staat stellten Putin und die Seinen freilich in den Dienst einer zunehmend neoliberalen Entwicklung. Das degradierte das von den Schocktherapeuten von gestern angeführte liberale Lager zu einer bedeutungslosen Sekte.

Die auf ihrer ideologischen Integrationskraft beruhende Stärke von Putins »Einheitsrussen« ist aber auch ihre Schwäche. Die Konflikte werden nicht zwischen den Parteien ausgetragen, sondern innerhalb der Machtpartei. Dabei stehen sich im Wesentlichen die Befürworter der Machtvertikale und Liberale gegenüber. Dmitri Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 die Rolle des Präsidenten zu spielen hatte und nun als Regierungschef fungiert, gilt als die Galionsfigur der Liberalen, oder besser: als ihr Sonntagsredner. Obwohl die russische Verfassung dem Präsidenten nahezu diktatorische Vollmachten einräumt, stand Medwedew nicht an der Spitze der Machtvertikale, sondern wurde von ihr beherrscht. Nachdem er 2012 Putin wieder den Vortritt ließ oder lassen mußte, dürfte sich auch seine Rolle als das liberale Gewissen Rußlands, das unermüdlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Öffnung und Modernisierung anmahnte, weitgehend erschöpft haben.

Die »souveräne Demokratie«, wie Kreml-Chefideologe Wladislaw Surkow das russische Modell zu bezeichnen pflegt, ist indessen in eine ernsthafte politische Krise geraten. Putins wichtigstes politische Kapital, derjenige gewesen zu sein, der Rußland aus der Zeit der Wirren herausgeführt und wieder Stabilität verliehen hat, beginnt sich zu verflüchtigen. Denn die Stabilität nimmt zunehmend Züge der Stagnation an – politisch und ökonomisch. Politisch, weil es keinen wirklichen Parlamentarismus gibt und Putins »Einheitliches Rußland« den Charakter einer Staatspartei angenommen hat, wodurch – auch bedingt durch die Schwäche der politischen Gegner – praktisch ein Einparteiensystem unter Bedingungen eines äußerst korrupten Kapitalismus entstanden ist. Ökonomisch stagniert Rußland, weil es seine verarbeitende und Konsumgüterindustrie ab-, statt ausgebaut hat, sein einst enormes wissenschaftliches Potential verkümmern läßt und auf dem Weltmarkt fast nur als Rohstofflieferant in Erscheinung tritt, sein Wohlergehen somit weitgehend von den Preisen für Öl und Gas abhängig ist.

So sind nach Jahren des ökonomischen Aufschwungs und der politischen Stabilisierung schon wieder Zeichen des Zerfalls zu beobachten. Die Gesellschaft spürt das und artikuliert ihren Unmut. Doch es handelt sich um eine Massenstimmung, die von der protestierenden Opposition nur unzureichend reflektiert wird. Denn die Hauptursache der Unzufriedenheit liegt in der sozialen Regression – ein Thema, das die Liberalen nicht zur Sprache bringen wollen. Das fänden auch einige Linke durchaus in Ordnung, schreibt der Moskauer Soziologe und Publizist Boris Kagarlitzki. Das Erheben sozialer Forderungen, gibt er deren Position wieder, würde die soziale Basis der Proteste einengen. Die Einbeziehung der subalternen Klassen in die Bewegung wird somit als Einschränkung und nicht als enorme Erweiterung der sozialen Basis der Proteste wahrgenommen, weil dadurch ja Multimilliardäre wie Prochorow verschreckt werden könnten. Dem hält Kagarlitzki entgegen, daß sich bei den Demonstrationen vom 10. Dezember 2011 landesweit 250000 Menschen versammelt hatten, während sich an den Massenprotesten gegen die Sozialpolitik der Regierung im Januar 2005 zweieinhalb Millionen Menschen beteiligt hatten.

75 Prozent jener, die gegen das System Putin protestieren, bekennen sich zu liberalen und nur 25 Prozent zu linken Werten. Das heißt, daß die Basis der Bewegung zum Großteil aus Leuten besteht, die in ihren Aktionen gegen die gegenwärtige Kreml-Partei eine Fortsetzung des Kampfes gegen die KPdSU sehen. Welcher Art deren »liberale Werte« sind, zeigte sich im August 1993, als Eliteeinheiten der Armee das Parlament an der Moskwa in Schutt und Asche legten. Die Zerstörung der Demokratie, die von den russischen Liberalen und der veröffentlichten Meinung im Westen Putin angelastet wird, ist in Wahrheit in der Jelzinschen Verfassung, die eine Art präsidiale Selbstherrschaft vorsieht, festgeschrieben. Putin stützt sich immerhin auf eine parlamentarische Mehrheit, Jelzin nominierte seine Regierungen bis auf eine Ausnahme (das 1998/99 regierende Kabinett Primakow/Masljukow) gegen die Mehrheit im Parlament.

Die kleinbürgerlichen und intellektuellen Zwischenschichten, die sich vom Kapitalismus ihre politische Emanzipation erwartet haben und sich in ihren Hoffnungen enttäuscht sehen, betrachten das Putin-Regime dennoch als restaurative Kraft. Sie dominieren die Demonstrationen in den Großstädten, die von den verarmten Massen auf dem Land höhnisch als »Rebel­lion der Nerzmäntel« bezeichnet wird. Doch auch fern von Moskau wächst die Unzufriedenheit mit dem Mann im Kreml. Für die Masse der Bevölkerung bedeutete die Einführung des neuen russischen Kapitalismus einen Akt der sozialen De-Emanzipation. Die Zeit nach Jelzin brachte ein wenig Ordnung in die Bereicherungsanarchie, die politische Macht der Oligarchen war gebrochen. Doch die Tatsache, daß die Anti-Putin-Allianz noch Schlimmeres, das heißt noch mehr Neoliberalismus verheißt, läßt das Gros der Volksmassen an ihrer Wahl für Putin festhalten. Dabei ist es jetzt schon schlimm genug.

Die Privatisierung der Daseinsvorsorge und der Infrastruktur schreitet zügig voran. In einer solchen Situation müßte die Linke eigentlich aus dem Bündnis mit den systemfeindlichen Neoliberalen ausscheren und eine dritte Kraft bilden, die sich für den zu erwarteten sozialen Aufruhr bereithält. Statt dessen fühlt sich die Linke Front unter ihrem Anführer Sergej Uldazow dazu berufen, die radikalste Fraktion der bürgerlichen Oppositionsbewegung zu bilden. Uldazows linksradikal anmutende Entschlossenheit, das Regime zu stürzen, steht in einem seltsamen Kontrast zu seinen kreuzbraven Ansichten aus dem Fundus der Sozialdemokratie.

Der Westen hat seine aggressive Gangart gegenüber dem Moskowiterreich noch verschärft und unterstützt enthusiastisch die Opposition. So neoliberal können Putin und die Seinen gar nicht agieren, als daß ihnen nicht der Vorwurf gemacht werden würde, sie wollten das Sowjetsystem restaurieren. Denn Rußland hat nicht nur kapitalistisch, sondern auch unterwürfig zu sein. Es hat die Hegemonie des Westens anzuerkennen, statt in der UNO dessen Kriegspolitik gegenüber Syrien zu blockieren. Die Erfahrung zeigt, daß Moskau zu schlechter Letzt doch immer wieder klein beigegeben hat.

* Aus: junge Welt, Montag, 31. Dezember 2012


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