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Der untaugliche Rettungsversuch

Der August-Putsch 1991 beschleunigte den Zerfall der Sowjetunion und den Systemwechsel

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Vor 20 Jahren, in der Nacht zum 19. August 1991, übernahm in Moskau ein achtköpfiges »Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand« die Regierungsverantwortung, um – so das erklärte Ziel – die Sowjetunion vor dem Zerfall zu retten. Tatsächlich beschleunigte der Staatsstreich die Auflösung der Union.

Dem Publizisten Sergej Parchomenko verlangte der August-Putsch 1991 nach eigenen Worten die größte sportliche Leistung seines Lebens ab. Mit Ehefrau und zwei kleinen Söhnen machte er Mitte August 1991 in einem Ferienheim des sowjetischen Journalistenverbandes im Gebiet Kostroma Urlaub. Dass in Moskau über Nacht ein Notstandskomitee um Vizepräsident Gennadi Janajew die Macht übernommen hatte, um Sowjetmacht und Sozialismus zu retten, erfuhr er am Morgen des 19. – einem Montag – von einer Kollegin, die ein Radio mitgenommen hatte. Parchomenko, der für die »Nesawissimaja Gaseta« arbeitete, hatte danach nur noch einen Gedanken: Wie komme ich am schnellsten zurück nach Moskau?

Das Vorhaben scheiterte zunächst daran, dass er auf den fünfjährigen Lew aufpassen musste. Denn seine Frau, der ältere Sohn und ein paar Freunde waren am Abend zuvor an einen zwölf Kilometer entfernten Fluss zum Angeln aufgebrochen. Kurzerhand, sagt Parchomenko, habe er Lew in der Obhut seiner Kollegin gelassen, sei durch den Wald geeilt und sah bald das Zelt der Angler. Die hatten ihr Lager allerdings am jenseitigen Ufer des Flusses aufgeschlagen und schliefen offenbar. Der Fluss war breit und Parchomenko mochte sich nicht in die Fluten stürzen. Er versuchte es mit Schreien. Als er sah, dass er gehört wurde, brüllte er, dass Panzer gen Moskau rollten und dass Michail Gorbatschow im Urlaubsort auf der Krim unter Hausarrest gestellt worden sei.

Dann, sagt er, sei er die zwölf Kilometer zurückgelaufen, habe noch den Abendzug nach Moskau erwischt, sei dort am frühen Morgen des 20. August angekommen und zum Weißen Haus geeilt, damals Sitz der russischen Regierung und des Obersten Sowjets der RSFSR. Er habe »wie ein Waldschrat« ausgesehen und keinen Ausweis bei sich gehabt, ein Wachposten habe ihn jedoch erkannt und passieren lassen. Nach vier Stunden hatte Parchomenko seine erste Reportage fertig, geschrieben mit geliehenem Bleistift auf geborgtem Papier.

Heute moderiert Parchomenko eine Talkshow bei Radio »Echo Moskwy«. Vor allem aber ist er Präsident der Stiftung zum Schutz von Glasnost: Transparenz. Denn die hat die russische Gesellschaft nicht nur aus seiner Sicht heute bitterer nötig als im August 1991. Liberale und manche Bürgerrechtler bezeichnen die Ereignisse von damals noch heute als Revolution. Allerdings als eine unvollendete.

Die Putschisten gaben schon am 21. August auf. Die Armeeführung weigerte sich, den »lebenden Ring«, den Zehntausende Moskauer rund um das Weiße Haus gebildet hatten, mit Gewalt aufzulösen. Und die Funktionäre in den Regionen hatten zwar gewisse Sympathien für das Notstandskomitee, warteten aber ab, wie der Machtkampf in Moskau enden würde.

Der Verlierer war Michail Gorbatschow, der nach seiner der Rückkehr nach Moskau akzeptieren musste, dass fortan Russlands Präsident Boris Jelzin das Sagen hatte. Dem musste Gorbatschow Ende Dezember 1991 auch Kremlschlüssel und Atomkoffer aushändigen. Der Sowjetunion, der Gorbatschow mit einem neuen Unionsvertrag neuen Atem einhauchen wollte, hatte Jelzin schon drei Wochen zuvor den Todesstoß versetzt. Obwohl sich im März 1991 bei einem Volksentscheid die Masse für den Erhalt der Union ausgesprochen hatte, einigte er sich mit seinen Kollegen aus Belarus und der Ukraine über deren Auflösung.

Und gab im Januar 1992 mit der Freigabe der Preise auch offiziell den Startschuss zum Systemwechsel in Russland. Die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zogen nach. Jelzin war mit der Eigendynamik, die die von ihm in Gang gesetzten Prozesse entwickelten, schnell überfordert, was sich spätestens bei der Privatisierung von Staatseigentum Mitte der Neunziger zeigte. Ehemalige Komsomol-Funktionäre wie Michail Chodorkowski, die schon während der Perestroika die Spielregeln des Kapitalismus verinnerlicht hatten, machten mit Tricks hart am Rande der Legalität – und darüber hinaus – den goldenen Schnitt.

Ähnlich verlief die Privatisierung auch in den anderen UdSSR-Nachfolgestaaten. Maximal fünf Prozent der Bevölkerung kontrollieren heute über 95 Prozent des umlaufenden Kapitals. Und Volkes Mitsprache wurde auf jenen Bonsai-Wuchs zurückgeschnitten, den sie vor Beginn von Gorbatschows Perestroika hatte. Die Masse der Russen, deren Sparbücher die Hyperinflation zu Makulatur machte, verzieh Jelzin und seinem provisorischen Regierungschef, dem IWF-Jünger Jegor Gaidar – der für den Systemwechsel im schlimmsten Falle mit 30 Millionen Toten rechnete – die sozialen Grausamkeiten nie. »Demokratie« verkam schon Mitte der Neunziger zum Schimpfwort, wurde Synonym für Chaos und ausufernde Kriminalität.

Auch das erklärt die Sympathien für Wladimir Putin, der Jelzin 2000 als Präsident beerbte, für eine fragile Stabilität sorgte und dafür, dass der Bürger wieder Fleisch im Topf hatte. Zivile Rechte, die Putin unter der Losung »Extremismusbekämpfung« beschnitt, halten viele Ältere sowie die apolitische Spaßgeneration für entbehrlich. Die »Demokraten«, die soziale Forderungen bisher kaum aufgegriffen haben, hätten daher selbst bei fairen Wahlen wenig Chancen. Solange sie nicht willens oder fähig sind, dieses Missverhältnis zu korrigieren, wird die »Revolution« von August 1991 eine unvollendete bleiben.

* Aus: Neues Deutschland, 19. August 2011

1991 – letztes Jahr der UdSSR

17. März: Nach Souveränitätserklärungen mehrerer Republiken im Jahre 1990 sprechen sich in einem Referendum 76,4 Prozent der Teilnehmer für den Erhalt der UdSSR als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken aus. Estland, Litauen, Lettland, Armenien, Georgien und Moldova nehmen nicht teil.

23. April: Neun Republiken einigen sich, einen neuen Unionsvertrag auszuarbeiten.

20. Juni: Mit der Wahl Boris Jelzins zum Präsidenten der Russischen Föderation (56 Prozent der Stimmen) entsteht in Moskau ein alternatives Machtzentrum.

23. Juli: Einigung über den Vertrag zur Bildung einer Union Souveräner Staaten, der am 20. August unterzeichnet werden soll.

17. August: Regierung unter Ministerpräsident Valentin Pawlow bewertet den Vertrag als unzureichend, weil ihr der Einfluss auf die Wirtschaftspolitik entzogen wird.

19. August: Achtköpfiges Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand (GKTschP) unter Vizepräsident Gennadi Janajew erklärt Präsident Gorbatschow, der zur Erholung auf der Krim weilt, für handlungsunfähig und verhängt über Teile der UdSSR den Ausnahmezustand. Truppen rücken in Moskau ein, Jelzin ruft zum Widerstand auf.

20. August: In Moskau, Leningrad und anderen Städten versammeln sich Zehntausende zum Protest.

21. August: In Moskau werden drei junge Leute von Panzern überrollt, das Verteidigungsministerium befiehlt Truppenrückzug, das GKTschP löst sich auf. In der Nacht zum 22. August kehrt Gorbatschow zurück.

23./24. August: Jelzin verbietet die Tätigkeit der KPdSU in Russland. Gorbatschow tritt als Generalsekretär der KPdSU zurück.

8. Dezember: Führer der Republiken Russland, Ukraine und Belarus bilden Dreierbund und verkünden das Ende der UdSSR als Völkerrechtssubjekt.

25. Dezember: UdSSR beendet offiziell ihre Existenz. Gorbatschow erklärt seinen Rücktritt als Präsident.

(ND/Agenturen)




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