"Mich ärgert, daß ich an Gorbatschow geglaubt habe"
Vor 20 Jahren gab es in Moskau einen Putschversuch. Die Hintergründe sind immer noch rätselhaft. Ein Gespräch mit Hans Modrow *
Hans Modrow (geb. 1928) übte in der DDR verschiedene führende Funktionen in FDJ und SED aus. Vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 war er Ministerpräsident, später bis 1994 Abgeordneter des Bundestages und von 1999 bis 2004 Mitglied des Europaparlaments. Von 1990 bis 2007 war er Ehrenvorsitzender der PDS und ist seitdem Sprecher des Ältestenrats der Partei Die Linke.
Vor 20 Jahren haben in der damaligen Sowjetunion Offiziere des Geheimdienstes KGB und der Streitkräfte gegen die von KPdSU-Generalsekretär und Präsident Michail Gorbatschow geführte Staatsmacht geputscht. Sie waren damals dort, wie haben Sie diesen Versuch eines Staatsstreichs erlebt?
Das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) hatte mich als ehemaligen Ministerpräsidenten der DDR zu einem Urlaub in Foros auf der Krim eingeladen. Ich wollte aber zunächst in Moskau der Bitte der Verteidiger von Erich Honecker und Markus Wolf nachkommen, zu deren Unterstützung sowjetische Rechtsanwälte zu gewinnen.
Am 5. August 1991 hatte ich darüber zunächst ein Gespräch mit dem Vizepräsidenten der Sowjetunion Gennadi Janajew, der mich an den Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow, verwies. Als ich ihn am Nachmittag desselben Tages traf, versicherte er mir seine Hilfe in dieser Angelegenheit. Am Abend hatte ich zu demselben Thema noch eine Unterredung mit Alexander Dsasochow, Mitglied des Politbüros, über die Lage in unseren Parteien.
Mein Eindruck war zu diesem Zeitpunkt, daß in der Sowjetunion alles seinen normalen Gang ging. Ich wurde z.B. darüber informiert, daß ein neuer Entwurf für das Programm der Partei vorlag und daß für die UdSSR ein neuer Unionsvertrag ausgearbeitet sei. Am 20.August, so hieß es, werde Gorbatschow von der Kur zurückkehren und den Vertrag unterzeichnen. Da der ZK-Sekretär für Internationale Angelegenheiten, Valentin Falin, im Urlaub war, ging ich zu seinem Stellvertreter Raffael Fjodorow, den ich über die geführten Gespräche informierte. Wir verständigten uns, daß ich auf dem laufenden gehalten werde, falls sich etwas Besonderes ereigne. Ich flog also am 6.August von Moskau auf die Krim – mit dem guten Gefühl, daß jetzt mein Urlaub beginnt.
Wie haben Sie dann von dem Putsch erfahren?
Ich pflegte damals früh morgens vor dem Frühstück erst einmal eine lange Strecke zu laufen. Mein Weg führte mich gewöhnlich von meinem Sanatorium aus am Strand des Schwarzen Meeres entlang bis hin zur Datscha »Morgenröte«, in der Gorbatschow wohnte– hin und zurück waren das wohl acht bis neun Kilometer. Frühmorgens am 19.August war noch alles ruhig – erst am Abend sah ich in den Fernsehnachrichten, was mittlerweile geschehen war: Es hatte sich ein »Staatskomitee für den Ausnahmezustand« gebildet und dessen Vorsitzender war Vizepräsident Janajew. Er informierte die Bevölkerung, Gorbatschow sei überraschend erkrankt und das Komitee übernehme daher die Verantwortung für den Staat.
Morgens beim Frühstück hatte ich noch Innenminister Boris Pugo gesehen. Als er so gegen zehn Uhr abreiste, dachte ich, sein Urlaub sei zu Ende – am Abend allerdings erfuhr ich, daß er Teilnehmer dieses Putsches war.
Wie lief für Sie der Putsch ab?
In Foros, wo Gorbatschow seine Datscha hatte, machte alles einen völlig normalen Eindruck. Daß der Staatspräsident unter Hausarrest war und man sein Telefon abgestellt hatte, erfuhr ich erst viel später.
Am 21. August lief ich wieder bis zur Datscha »Morgenröte« – im gesamten Komplex war es ruhig. Es gab kein Anzeichen dafür, daß etwas Außerordentliches geschehen sei. Im Sanatorium selbst war es allerdings lebhaft, zahlreiche Gäste reisten ab – u. a. der spätere Staatspräsident Polens Alexander Kwasniewski und der spätere Ministerpräsident Leszek Miller mit ihren Familien. Sie wollten alle so schnell wie möglich nach Moskau.
Ich wurde von vielen gefragt, wie es in Polen abgelaufen war, als 1981 General Wojciech Jaruzelski die Macht übernahm. Ich erklärte ihnen, daß es einen wesentlichen Unterschied gab: In der Sowjetunion hatte das Militär keineswegs das Ruder übernommen – in Moskau wurden zwar viele Erklärungen abgegeben, aber im Rest des Landes blieb alles ruhig.
Was war das Motiv für den Putsch und wer stand dahinter?
Am 23. August flog auch ich zurück nach Moskau; der mittlerweile befreite Gorbatschow war schon einen Tag zuvor zurückgekehrt. Ich hatte zunächst ein Gespräch im ZK mit Valentin Falin – er sah krank aus und trug einen Trainingsanzug, angeblich war er auf seiner Datscha gestürzt. Er betonte mit Nachdruck, daß das Politbüro der KPdSU nichts mit dem Putsch zu tun habe, lediglich eines seiner Mitglieder sei daran beteiligt, ansonsten handele es sich um Staatsfunktionäre. Eine Stunde, bevor das Gebäude des ZK geschlossen wurde, verließ ich es als letzter ausländischer Gast.
Schon während des Urlaubs war ein großer Unterschied zwischen Moskau und der Provinz zu spüren. Ein knappes Dutzend Gebietssekretäre hatte meine Frau und mich zu einem Abendessen mit Spezialitäten aus ihrer Heimat eingeladen. Nach einigen Wodkas ging es im Gespräch um fehlende Führung in Moskau, wachsende Unzufriedenheit und schwindendes Vertrauen zur Partei im Land. Als der Putsch begann, verabschiedeten sich einige noch persönlich. Sie hatten weder zu Gorbatschow noch zu Janajew Vertrauen. Was die Zukunft bringen würde, war unklar.
Später ist mir einiges klarer geworden. Als die sowjetischen Truppen aus der ehemaligen DDR abgezogen wurden, war ich 1993 dabei, als in Rechlin ein Jagdgeschwader seine Verlegung nach Rußland vorbereitete. Der Kommandeur, ein junger General, sagte mir: Der Zug, in dem wir alle saßen, fuhr immer schneller. Gorbatschow sprang ab, und Sieger der ganzen Sache war Boris Jelzin. Der hatte sich in Moskau theatralisch auf einen der Putschistenpanzer gestellt, so daß jeder sehen konnte, welch ein Held er war.
Welche Rolle spielte Jelzin bei der Niederschlagung des Putsches?
Ich denke, daß diejenigen recht haben, die meinen, daß er die besten Voraussetzungen hatte, die Macht im Staate zu übernehmen und zu behalten. Er war vom Volk zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt worden, Gorbatschow aber war als Präsident der noch existierenden Sowjetunion nur vom Parlament bestimmt worden. So erklärt sich das Machtbewußtsein Jelzins und eine Art Doppelherrschaft.
Am 23. August sah ich abends im Fernsehen, wie Jelzin Gorbatschow bei einer öffentlichen Versammlung buchstäblich demütigte. Er forderte ihn auf, zu bekennen, wie es zu dem Putsch gekommen sei und wie sich die sowjetische Regierung den Putschisten gebeugt habe. Als Gorbatschow darauf keine Antwort wußte, ging Jelzin noch einmal zum Rednerpult und gab ihm das Protokoll der letzten Ministerratssitzung: Lesen Sie vor! sagte er. Gorbatschow las einige Passagen vor, und es wurde den Anwesenden klar, daß er überhaupt nicht begriffen hatte, worum es ging.
Am 24. August, das war der Tag, an dem ich zurückflog, trat Gorbatschow vom Amt des Generalsekretärs der Partei zurück. Er hatte die Illusion, noch einen neuen Unionsvertrag unter Dach und Fach bringen zu können, führte dazu auch einige Gespräche – es kam jedoch nichts mehr zustande. Am Weihnachtsabend 1991 verkündete Gorbatschow das Ende der Sowjetunion. Er löste die KPdSU auf, und Jelzin verfügte ein Verbot ihrer Strukturen – er war jetzt der starke Mann.
Gorbatschow gilt vor allem in der Bundesrepublik als demokratische Lichtgestalt. Wie haben Sie ihn erlebt?
Ich hatte mehrere Begegnungen mit ihm, zuletzt 1992, als mich die Gorbatschow-Stiftung gemeinsam mit dem früheren tschechoslowakischen Dissidenten Zdenek Mlynar zu einem Europa-Seminar eingeladen hatte. Er war früher Sekretär des ZK der tschechischen Kommunisten und hatte gemeinsam mit Gorbatschow in Moskau Jura studiert. Wir wollten beide bei einem Mittagessen mit ihm reden – es kam aber kein Gespräch zustande. Mlynar, der später Ehrenvorsitzender der Partei der Demokratischen Sozialisten der Tschechoslowakei wurde, sagte mir dann: »Weißt du, ich war 1968 Dissident – Gorbatschow aber wurde Generalsekretär der KPdSU. Heute bin ich der überzeugte Sozialist– er aber hat mit Sozialismus überhaupt nichts mehr zu tun.«
Nicht einmal dabei ist es geblieben. Gorbatschow bekennt sich heute zum Antikommunismus und erklärt, er habe die Zerstörung der Sowjetunion als Ziel seiner Politik gesehen.
Bedauern Sie, daß der Putsch mißlang?
Was ich bedauere ist, daß es überhaupt zu einem solchen Putsch kam. Und mich ärgert, daß ich zu lange an Gorbatschow geglaubt und ihm vertraut habe.
Heute von einem Putsch zu sprechen, heißt vieles zu hinterfragen. Gorbatschow macht es sich einfach – daß er in seinem eigenen Land zur Unperson geworden ist, sagt alles. Selbst Alexander Jakowlew, einst sein engster Begleiter, erhob schwere Vorwürfe gegen ihn.
Wenn es um den Putsch geht, stellt sich die Frage, warum alle Beteiligten schnell aus der Haft entlassen wurden und warum keine Anklage erhoben wurde. Am wenigsten zeigten sich Jelzin und Gorbatschow an einem Prozeß interessiert, der manches hätte aufdecken können. Übrigens zeigten sich auch die USA zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Welche Rolle Geheimdienste dabei gespielt haben, bleibt geheim.
Das innenpolitische Geschehen in der Sowjetunion macht deutlich, daß sie keinen Bestand mehr haben konnte. Ihr Untergang hat allerdings die einstige Balance im Kräfteverhältnis in der Welt zerstört.
Interview: Peter Wolter
* Aus: junge Welt, 26. August 2011
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