Kagame liest dem Westen die Leviten
Amtseinführung von Ruandas Präsident
Von Marc Engelhardt, Nairobi *
Paul Kagame hat 1994 den Völkermord in seinem Heimatland beendet und das Land seitdem
reformiert. Zu Beginn seiner zweiten Amtszeit als ruandischer Präsident feiern ihn immer noch viele
dafür. Doch es wächst die Kritik.
Sechzehn Staatschefs und mehr als 40 000 Ruander waren in das größte Fußballstadion der
Hauptstadt Kigali geströmt, um die Vereidigung des alten und neuen Präsidenten von Ruanda zu
verfolgen. Das Riesenaufgebot nutzte Paul Kagame, um den Westen im Allgemeinen und
Menschenrechtler im Besonderen zu kritisieren. »Sie kritisieren unsere Fortschritte«, rief Kagame
den jubelnden Massen zu. »Und für das, was sie selbst falsch machen, wollen sie uns zur
Rechenschaft ziehen. Wir brauchen nicht die Lektionen, die uns immer erteilt werden.«
Der einstige Liebling des Westens, den Tony Blair in seine Afrika-Kommission berief und der als
Repräsentant des ärmsten Kontinents bei G 8-Treffen und Weltwirtschaftsforen gern gesehen war,
ist in der Realität gelandet. Und die sieht derzeit nicht besonders rosig für ihn aus. Ein noch
unveröffentlichter UN-Bericht wirft Ruandas Armee vor, zwei Jahre nach dem Genozid in Ruanda im
Osten Kongos willkürlich tausende Hutu getötet zu haben. »Was Ruandas Soldaten den Hutu im
Osten Kongos angetan haben«, so das Fazit der Autoren, »grenzt seinerseits an einen Völkermord.«
Kagame war damals Verteidigungsminister. Als mangelhaft und unqualifiziert verurteilte seine
Regierung den Bericht. Sie droht, mehr als 3500 Soldaten aus UN-Friedensmissionen abzuziehen,
sollte der Bericht veröffentlicht werden. Kritik ist nicht gerne gesehen in Ruanda, wo die seit 1994
herrschende Ideologie Kagame (52) vor allem als Befreier seines Volkes von den mordenden und
brandschatzenden Hutu-Extremisten sieht. Im Frühjahr 1994 hatten diese innerhalb von hundert
Tagen bereits mehr als 800 000 Tutsi und moderate Hutu umgebracht, als die von Kagame geführte,
vor allem aus Tutsi bestehende »Patriotische Front« in Ruanda einmarschierte und dem Grauen ein
Ende machte. Leicht hätte Ruanda danach im Chaos versinken können. Viele befürchteten einen
Rachefeldzug. Doch Kagame ließ alle Soldaten festnehmen, denen »Vergeltungsschläge«
nachgewiesen werden konnten. Er ließ mehr als hunderttausend mutmaßliche Völkermörder
verhaften und errichtete Gedenkstätten. Sein demonstrativer Wille zur Versöhnung stabilisierte das
Land und machte ihn schnell bei Geberländern beliebt, deren Hilfe das mittellose Land dringend
brauchte.
Unter Kagames Führung mauserte sich Ruanda zum afrikanischen Musterland: Das Straßennetz ist
asphaltiert, das Telefonnetz digitalisiert. Ruanda setzt auf erneuerbare Energien und den
Dienstleistungssektor. Plastiktüten sind verboten, weil sie umweltfeindlich sind. Frauen stellen mehr
als die Hälfte der Abgeordneten und Minister, mehr als irgendwo sonst in der Welt.
Kagame, als Flüchtlingskind aufgewachsen in Uganda, umgibt sich mit anderen ehemaligen
Exilanten. Nur eine kleine Schicht dieser »Linksfahrer«, wie die Gruppe halb spöttisch, halb ängstlich
genannt wird, profitiere vom ruandischen Aufschwung, kritisiert nicht nur die abgehängte
Bevölkerungsmehrheit der Hutu. Doch laut beschwert sich niemand. Hutu und Tutsi gibt es offiziell
gar nicht mehr: Wer die Worte in den Mund nimmt, kann ins Gefängnis wandern. Im Vorfeld der
Wahlen Anfang August, die Kagame mit 93 Prozent der Stimmen gewann, wurden zudem kritische
Journalisten, Oppositionelle und andere Kritiker verhaftet. Repression ist zum Normalzustand
geworden.
Kagame wird mehr verehrt als geliebt. Doch dass die Mehrheit der Ruander hinter ihm steht, steht
außer Frage. Dass Ruanda heute friedlich ist und prosperiert, sehen selbst Kritiker als sein
Verdienst. Dennoch brodelt es vor allem in den Hütten auf dem Land: Dort wachsen die
Ressentiments genauso rasant wie die Bevölkerung. Eine gefährliche Entwicklung.
* Aus: Neues Deutschland, 8. September 2010
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