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Intervention à la française

Frankreich weist bis heute jede Verantwortung an dem ruandischen Völkermord zurück. Eine Ende Juni 2013 von Menschenrechtsorganisationen eingereichte Klage zeigt dagegen, daß Paris tief in den Genozid verstrickt war

Von Jörg Tiedjen *

Der Völkermord in Ruanda im Jahr 1994 ist ohne Zweifel eines der ungeheuerlichsten Verbrechen der jüngsten Geschichte. In 100 Tagen fielen ihm zwischen 800000 und einer Million Menschen zum Opfer. Von damals annähernd sieben Millionen Einwohnern, die das etwa 26000 Quadratkilometer kleine Land im Osten Afrikas hatte. Auf bestialische Weise wurden viele der dort lebenden Tutsi, die ungefähr 14 Prozent der Bevölkerung ausmachten, ermordet. Auch Angehörige der Hutu-Mehrheit, die den Völkermördern im Weg standen, wurden getötet. Statt einzugreifen, zogen die Vereinten Nationen (UN) ihre zuvor stationierten Blauhelmtruppen weitgehend ab. Zudem vermieden sie es wochenlang, die Geschehnisse als »Genozid« zu bezeichnen.

Dieses Wegsehen war nicht zufällig: Große Teile der »internationalen Gemeinschaft« standen dem Gemetzel gleichgültig gegenüber oder waren, wie die USA angesichts der gescheiterten Intervention in Somalia 1993, nicht zum erneuten Eingreifen in Afrika bereit. Mehr noch, es gab eine Partei, die den Genozid sogar unterstützte: Frankreich. Immer noch deckt das Land die Täter und schreibt die Schuld an dem Verbrechen den Tutsi selbst, namentlich der »Ruandischen Patriotischen Front« (RPF), zu. Demnach sollen es Tutsi-Rebellen der RPF gewesen sein, die am 6. April 1994 das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen hatten und damit die Gewalt auslösten. Die RPF habe, so die französische Interpretation, den unmittelbar auf das Attentat folgenden Völkermord in Kauf genommen, ja provoziert, um einen Vorwand für ihre spätere siegreiche militärische Offensive gegen die Regierungsarmee zu haben.

Um diese Theorie zu untermauern, verfaßte 2006 der französische Richter Jean-Louis Bruguière einen Bericht. Dieser wird bis heute angeführt, wenn es um die Verteidigung der Völkermörder geht, zum Beispiel vor dem »Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda« (siehe jW-Thema vom 14.6.2013). Vergleichsweise wenig Anerkennung fanden hingegen von der ruandischen Regierung in Auftrag gegebene Untersuchungen. Anfang 2012 wurde Bruguière jedoch in Frankreich selbst durch Ermittlungen seines Richterkollegen Marc Trévidic widerlegt. Diesem zufolge spricht alles dafür, daß das Attentat auf die Präsidentenmaschine, das keiner der Insassen überlebte, auf Geheiß der späteren Massenmörder begangen wurde, die sich auf diese Weise an die Macht putschen konnten.

Daran anknüpfend reichten am 25. Juni 2013 drei Menschenrechtsorganisationen – der Verein Survie, die Internationale Vereinigung für Menschenrechte (FIDH) und die Französische Liga für Menschenrechte (LDH) – in Paris Klage gegen den französischen Hauptmann Paul Barril wegen Beihilfe zum Völkermord ein. Der Offizier stand der ruandischen Regierung seit Ende der achtziger Jahre als Berater zur Seite. Zudem wird ihm vorgeworfen, daß er noch nach Beginn des Völkermords Verträge über Waffenlieferungen abgeschlossen sowie eine Spezialtruppe ausgebildet hat. Es wird ebenso vermutet, daß Barril auch bei dem Attentat auf Habyarimana seine Hände im Spiel gehabt haben könnte, zumal er es war, der später den Flugschreiber des abgeschossenen Flugzeugs präsentierte und entscheidend Anteil am Entstehen des Bruguière-Berichts hatte.

Genese eines Massenmords

Aber worauf beruhte eigentlich der Gegensatz zwischen Hutu und Tutsi, der sich derart mörderisch zuspitzte? Im Jahr 1885 begann das Deutsche Reich das heutige Ruanda, das damals ein von Tutsi regiertes Königreich war, als Kolonialmacht in Besitz zu nehmen. Das Land war zusammen mit dem benachbarten Burundi besetzt worden. Bei beiden Gruppen, Tutsi und Hutu, handelt es sich um ein Volk, das eine gemeinsame Herkunft und Verwandtschaft aufweist. Wenn es einen Unterschied zwischen ihnen gab, war er vor allem sozialer Natur und bezeichnete eine gesellschaftliche Stellung. »Hutu« waren zum Beispiel einfache Bauern, ihre Lehnsherren dagegen »Tutsi«. Die Grenzen waren fließend: Tutsi konnten durch Verlust ihres Eigentums zu Hutu werden, Hutu durch Reichtum zu Tutsi aufsteigen.

Beeinflußt vom sozialdarwinistischen Schrifttum dieser Zeit, das die Gestalt des hochgewachsenen, vergleichsweise hellhäutigen Königs scheinbar bestätigte, deuteten die Kolonialherren die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi biologisch. Die Tutsi wurden zu einer überlegenen »Rasse« stilisiert, die aus dem Norden in das Gebiet der Afrikanischen Großen Seen eingewandert sein soll, um die »dunkelhäutigeren« Hutu zu unterwerfen. Entsprechend machte Belgien, das die deutsche Kolonialherrschaft über Ruanda und Burundi nach dem Ersten Weltkrieg fortführte, die Tutsi zu lokalen Statthaltern und Wächtern über die Hutu-Mehrheit. Die vormalige soziale Dynamik zwischen beiden Gruppen wurde durch die Einführung spezieller Ausweise, die die vermeintliche ethnische Zugehörigkeit festschrieben, beendet.

Es blieb nicht aus, daß die antikoloniale Widerstandsbewegung in Ruanda sich nicht allein gegen Belgien, sondern auch gegen die von der Kolonialmacht begünstigten Tutsi wandte. In diesem Sinne gründete Grégoire Kayibanda Ende der fünfziger Jahre die »Partei der Hutu-Emanzipationsbewegung« (Parmehutu), die sich alsbald bewaffnete. Im Gegenzug bildeten auch die Tutsi Milizen. Nach einem gescheiterten Attentat auf Kayibanda brach 1959 die »Ruandische Revolution« aus, auch »Sturm der Zerstörung« genannt. 100000 Tutsi wurden in der Folge ermordet, 150000 flohen ins Ausland, die Mehrheit von ihnen nach Uganda. 1965 lebte ein Drittel der ruandischen Tutsi-Bevölkerung im Exil.

Belgien, das die Tutsi im Stich gelassen hatte, gewährte dem Land 1962 unter Kayibanda die Unabhängigkeit. Für die in Ruanda verbliebenen Tutsi begann eine Zeit der Repressionen und Massaker. Weiterhin unterteilten Sichtvermerke in den Personalausweisen die Bevölkerung in verschiedene ethnische Gruppen. Tutsi wurden so aus dem öffentlichen Dienst und aus den Schulen verdrängt. Die Parmehutu unterdrückte aber nicht allein die Tutsi, sondern jedwede Opposition. So verschärften sich auch unter den Hutu die Spannungen. Als Beobachter schon vor einem Bürgerkrieg unter den Hutu selbst warnten, putschte 1973 General Juvénal Habyarimana und errichtete eine Ein-Parteien-Diktatur mit der »Republikanischen Nationalbewegung für Demokratie und Entwicklung« (MRND) an der Spitze.

Zwar lockerte Habyarimana die Beschränkungen gegen die Tutsi, doch dies bedeutete nicht das Ende ihrer Verfolgung. Von der Öffentlichkeit unbemerkt bauten ihre Gegner ein Netzwerk auf. Dessen Anhänger nahmen die rassistischen Theorien der früheren Kolonial­herren für bare Münze und setzten sich die Eliminierung der Tutsi zum Ziel. Zu dieser Geheimorganisation gehörten neben Agathe Habyarimana, der Frau des Präsidenten, auch deren Bruder Protais Zigiranyirazo, ein Geschäftsmann, dem vorgeworfen wurde, in den Mord an der Zoologin Dian Fossey verwickelt gewesen zu sein. Außerdem als Mitglieder bekannt sind Oberst Théoneste Bagosora, der als Hauptorganisator des Genozids von 1994 gilt, sowie der Multimilliardär Félicien Kabuga. Letzterer sponserte die Zeitschrift Kangura, in der Ende 1990 der Journalist Hassan Ngueze die »Zehn Gebote der Hutu« veröffentlichte. Diese schürten den Haß auf die Tutsi. Ebenso finanzierte Kabuga später den Rundfunksender »Mille Collines«, der mit seinen offenen Aufrufen zum Mord eine entscheidende Rolle bei der Durchführung des Genozids spielte.

Frankreich eilt zu Hilfe

Wenn jemand den Völkermord rechtzeitig hätte aufhalten können, dann Frankreich. Aber genau wie die Hutu-Extremisten war es zu Kompromissen gegenüber den Tutsi nicht bereit. 1962 hatte der damals für die französische Afrikapolitik zuständige Jacques Foccart in den Ländern Ruanda und Burundi eine besondere Bedeutung im Kampf gegen das Vordringen – nicht des Kommunismus, sondern der USA in Afrika zugemessen. Die Frontlinie zwischen Anglo- und Frankophonie war die Grenze zum früher britischen Uganda und gleichzeitig die der französischen Interessensphäre. Dazu wurden mit der Regierung Kayibanda mehrere Kooperationsverträge unterzeichnet. Auch mit Nachfolger Habyarimana schloß Frankreich 1975 einen Militärhilfevertrag ab.

Als Anfang der 1980er Jahre auch die ugandische Regierung unter Milton Obote grausam gegen die Tutsi vorging, unterstützten viele von ihnen dessen Gegner Yoweri Museveni. Paul Kagame, der spätere Anführer der RPF und heutige Präsident Ruandas, war der damalige Spionagechef in Musevenis »Nationaler Widerstandsarmee« (NRA). Trotz ihres Siegs über Obote 1985 blieb den Tutsi in Uganda eine Integration weiterhin verwehrt. Sie hatten allerdings die Waffen noch nicht aus der Hand gelegt und beschlossen, sich so ihre Rückkehr nach Ruanda zu erkämpfen. Nach dem ugandischen Bürgerkrieg, der 300000 Tote gefordert hatte, begann am 1. Oktober 1990 der ruandische.

Obwohl sich die ruandische Regierungsarmee in der Übermacht befand, bedurfte es des Eingreifens zairischer, belgischer und französischer Truppen, um die Offensive der RPF aufzuhalten. Brüssel zog seine Soldaten bereits im November wieder ab, da die Unterstützung des Habyarimana-Regimes in Belgien Proteste auslöste. Der Vorwurf lautete schon damals, daß ein Völkermord betrieben werde. Frankreich behauptete hingegen, daß es mit der »Opération Noroît«, nur seine Staatsbürger in dem Land schützen wolle. Eine gängige Rechtfertigung für beliebige Interventionen zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Intern erklärte Präsident François Mitterrand: »Uganda soll sich nicht alles erlauben dürfen. (…) Wir befinden uns an der Grenze zum anglophonen Sprachbereich. (…) Es kann nicht sein, daß die Tutsi der Mehrheit ihren Willen aufdrängen.« Von Anfang an war die Militärintervention also darauf ausgerichtet, das Habyarimana-Regime am Leben zu erhalten und das Vordringen der Tutsi, die in Uganda Englisch statt Französisch gelernt hatten, zu verhindern.

Da die noch in Ruanda lebende Tutsi-Minderheit von vornherein als Verbündete der RPF angesehen wurde, begann Frankreich, einen »revolutionären Krieg« zu organisieren. Eine derartige Strategie der Aufstandsbekämpfung war bereits in Indochina und Algerien angewandt worden. Ziel war, der feindlichen Guerilla jede Unterstützung hinter den eigenen Linien zu entziehen. Dies dürfte die Stunde Paul Barrils gewesen sein, des vormals zweithöchsten »Terrorbekämpfers« der französischen Sicherheitskräfte. Überall im Land wurden Straßensperren errichtet, an denen die Personalausweise kontrolliert wurden. Tutsi wurden schikaniert, viele dieser Gruppe zugeordnete Menschen ermordet. Ab ungefähr 1990 wurden unter den Hutu Milizen gebildet, die sogenannten Interahamwe. Sie sollten die Gebiete hinter der Front von Tutsi säubern. Französische Berater sollen sie darin ausgebildet haben, wie man mit Macheten oder auch ohne Waffen tötet. Von nun an sei der Genozid absehbar, wie der damalige Botschafter Frankreichs in Kigali, Georges Martres, später vor einer parlamentarischen Untersuchungskommission bestätigte.

Das Ausmaß der damaligen Gewalt war erschreckend. So berichtete Amnesty International 1991 von außerlegalen Hinrichtungen im Beisein der Franzosen und ein Jahr später bereits von systematischen Massakern. Im Januar 1993 trat Jean Carbonare, Vorsitzender einer internationalen Untersuchungskommission, weinend vor die Kameras des französischen Fernsehsenders Antenne 2 und bestätigte, daß es sich in Ruanda keineswegs um Auseinandersetzungen zwischen zwei Ethnien, sondern um einen gezielt organisierten Völkermord an den Tutsi handele.

Der sabotierte Frieden

Doch auch unter den Hutu gab es zunehmend Widerstand gegen diese Entwicklung, so daß Habyarimana 1991 nichts anderes übrig blieb, als ein Mehrparteiensystem zuzulassen. Es gelang der sich formierenden Opposition zudem, Verhandlungen mit der RPF durchzusetzen, die im August 1993 im tansanischen Aruscha mit einem Friedensvertrag abgeschlossen wurden. Das damalige Abkommen verfügte einen sofortigen Waffenstillstand und die Bildung einer Übergangsregierung unter Einbeziehung der RPF. Zur Überwachung der Waffenruhe entsandten die UN im Herbst 1993 Blauhelmtruppen nach Ruanda. Offiziell war der Bürgerkrieg damit beigelegt.

Präsident Habyarimana schien den Frieden nach außen hin zu unterstützen. Doch die ­Hutu-Extremisten taten alles, um ihn zu verhindern. Die angespannt Lage sollte ursprünglich das Thema eines Gipfeltreffens im April 1994 im tansanischen Dar­essalam sein. Zur gleichen Zeit war aber auch im südlichen Nachbarland Ruandas, Burundi, der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi eskaliert. Als Habyarimana gemeinsam mit seinem burundischen Amtskollegen ­Cyprien Ntaryamira in Daressalam eintraf, versprach er kurzerhand, daß er das Aruscha-Abkommen nach seiner Rückkehr ohne Einschränkungen umsetzen werde. So konnten die angereisten Staatschefs sich allein der Situa­tion in Burundi widmen. Als sich am Abend des 6. Aprils ­Habyarimanas Flugzeug bei dessen Rückkehr im Landeanflug auf Kigali befand, wurde es von zwei Boden-Luft-Raketen getroffen. Der Völkermord in Ruanda begann.

Es war keine spontane Reaktion auf das Attentat. Die Macheten, derer sich die Milizen bei ihrem Massenmord bedienten, waren seit dem Vorjahr in großem Stil eingekauft worden. Noch im Januar 1994 hatte der kanadische General Roméo Dallaire, Kommandierender der UN-Blauhelme, berichtet, daß es eine geheime Miliz, Waffenlager und Namenslisten gebe, die es erlaubten, in den ersten Stunden eines Pogroms Tausende Opponenten zu ermorden. Ihm wurde nicht gestattet, diese auszuheben. Im Februar bat das an der Blauhelmmission beteiligte Belgien die UN um eine Ausweitung des Mandats: Die Soldaten sollten Gewalt einsetzen dürfen. Auch dies wurde abgelehnt. Statt dessen berichtete Radio »Mille Collines« nach dem Abschuß der Präsidentenmaschine, die frühere Kolonialmacht Belgien sei für das Attentat verantwortlich. Als darauf zehn belgische Blauhelme erschossen wurden, berief Brüssel sein gesamtes Truppenkontingent aus Ruanda ab. Genau dies hatte offensichtlich Generalstabsmitglied Bagosora beabsichtigt, der nun die Macht in Ruanda ergriff.

Am nächsten Morgen trafen sich an die hundert Vertreter der Hutu-Extremisten in der französischen Botschaft, um eine Übergangsregierung zu bilden. Währenddessen wurde die gemäßigte Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, die kurz zuvor im Radio zum Frieden aufgerufen hatte, ermordet.

Rettung für die Völkermörder

Die französischen Soldaten, die sofort zur Evakuierung aller Europäer (»Opération Amaryllis«) nach Ruanda entsandt wurden, unternahmen nicht den geringsten Versuch, dem beginnenden Genozid Einhalt zu gebieten. Auch Tutsi, die für französische Einrichtungen gearbeitet hatten oder mit Europäern verheiratet waren, erhielten keine Hilfe. Mitunter wurden sie sogar direkt an die Milizen übergeben, was ihren sicheren Tod bedeutete. Nur die Witwe Habyarimanas und die Insassen eines von ihr eingerichteten Internats für Kinder gefallener Armeeangehöriger wurden nach Frankreich in Sicherheit gebracht.

Offiziell hatten bereits am 14. April alle französischen Soldaten Ruanda verlassen. Hauptmann Paul Barril aber war immer noch im Land. Im Rundfunk gab er damals an, von Agathe Habyarimana beauftragt worden zu sein, das Attentat auf ihren Mann zu untersuchen. Dabei versuchte er zielstrebig, den Verdacht auf die RPF zu lenken. Die Ruandische Patriotische Front hatte nach Beginn des Völkermords eine Generaloffensive eingeleitet. Schon damals wurde Barril von der Historikerin Alison Des Forges und dem Journalisten Patrick de Saint-Exupéry vorgeworfen, an einer verdeckten Operation beteiligt gewesen zu sein. Im Rahmen derer sollten Spezialtruppen für den Einsatz hinter den feindlichen Linien ausgebildet werden. Offensichtlich fand der französische Richter Trévidic dazu 2012 erste tragfähige Beweise, weswegen im Juni 2013 Klage gegen den Offizier eingereicht wurden. Laut Anklage soll Barril im Süden des Landes ein Ausbildungslager unterhalten haben.

Die UN blieben trotz der Gewalttaten passiv. Im Sicherheitsrat wurde erst in dem Augenblick offiziell von einem Völkermord gesprochen, als Anfang Juni nach einer gescheiterten Gegenoffensive der Regierungstruppen abzusehen war, daß sie den Krieg gegen die RPF verlieren würden. Die Regierung in Paris nutzte die Situation, als der französische Rundfunk am 10. Juni von einem Massaker in einem Waisenhaus, das von einem französischen Pater geführt wurde, berichtete. Präsident Mitterrand schickte den damaligen Abgeordneten des Europäischen Parlaments und Gründer der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Bernard Kouchner, nach Kigali, um ihn vor laufenden Kameras ein weiteres Waisenhaus retten zu lassen – und zwar vor dem Vordringen der RPF. Zudem entsandte Frankreich mit Genehmigung der Vereinten Nationen und parallel zu den UN-Blauhelmen eine Interventionstruppe für die »Opération Turquoise« nach Ruanda.

Offiziell sollten die Soldaten dem Völkermord Einhalt gebieten, wozu im Süden des Landes eine sogenannte sichere Zone eingerichtet wurde. In Wirklichkeit ging auch dort der Genozid weiter. Zum Symbol der einseitigen französischen Interventionspolitik durch »Turquoise« wurden das Massaker von Bisesero, einer Berglandschaft in der südwestlichen Provinz Kibuye. Dort hatten sich seit Beginn des Völkermords 40000 Tutsi versteckt. Nach über zwei Monaten hatten von ihnen nur ungefähr 4000 überlebt. Als die ersten Franzosen eintrafen, glaubten die Überlebenden sich gerettet und verließen ihre ­Verstecke. Da sich das französische Militär angeblich nicht in der Lage sah, ihnen zu helfen, zog es wieder ab. Der Hutu-Miliz der Interahamwe, deren Anführer die Franzosen nach Bisesero begleitet hatten, gelang es so, auch noch die letzten Überlebenden zu ermorden.

Jahre später sagte ein Soldat der »Opération Turquoise« aus, ihnen sei erklärt worden, daß in Ruanda nicht die Hutu die Tutsi, sondern umgekehrt die »Schwarzen Khmer« der RPF die Hutu ermordeten. Das verrät den eigentlichen Auftrag der französischen Interventionisten: Den verbündeten Hutu sollte zu Hilfe geeilt werden, um sie über die »sichere Zone« ins damalige Zaire (heute DR Kongo) entkommen zu lassen. Von dort aus führten diese ihre Angriffe gegen die Tutsi fort. Das war wiederum der Auslöser für den kongolesischen Bürgerkrieg mit weiteren geschätzten fünf Millionen Toten, der bis heute noch nicht vollständig beendet ist.

Am 27. Juni leitete das Pariser Gericht auf Grundlage der vorgelegten Klage offiziell eine Untersuchung gegen Paul Barril ein. Ob es jemals zu einem Prozeß kommen wird, ist ungewiß. Fast nie sind in Frankreich Verbrechen in den früheren Kolonien wie Algerien oder Vietnam oder bei Militärinterventionen in Afrika juristisch verfolgt worden. In jedem Fall liegt auf der Politik, mit der Frankreich nach wie vor in Afrika interveniert und seine Interessen auf Kosten von Millionen Menschenleben durchsetzt, ein dunkler Schatten.

* Jörg Tiedjen ist Redakteur der Zeitschrift ­Inamo.

Aus: junge Welt, Montag, 29. Juli 2013



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