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Vor 15 Jahren begann in Ruanda der Völkermord an den Tutsi: Unvollendeter Versöhnungsprozess

Noch immer gibt es zahlreiche Fragezeichen und Streitigkeiten um die Verbrechen von 1994

Von Thomas Nitz

Am 6. April jährte sich zum 15. Mal das Attentat auf das Flugzeug des Präsidenten Ruandas, Juvénal Habyarimana. Es war Auslöser für den ruandischen Genozid, bei dem laut UNO über 800 000 Menschen ermordet und 2,5 Millionen zu Flüchtlingen wurden.

Im April herrscht in Ruanda Jahr für Jahr Anspannung. In den vergangenen Jahren kam es wiederholt in der Zeit, in der der Opfer des Völkermords gedacht wurde, zu Angriffen auf Überlebende. Auch Zeugen, die gegen Beteiligte des Mordens aussagten, wurden mit dem Tod bedroht. Deswegen hat die ruandische Polizei den Schutz der Überlebenden verstärkt. Vor allem nachts sollen mehr Polizisten die Überlebenden des Massenmords an der Tutsi-Minderheit und an gemäßigten Hutu schützen.

Der Abschuss des Flugzeuges des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana war der Auslöser des Mordens. In nur 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit über 800 000 Tutsi und der Regierung nicht genehme Hutu, ohne dass die internationale Staatengemeinschaft eingriff. Erst die Einnahme der Hauptstadt Kigali durch Paul Kagames Tutsi-Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front (FPR) beendete das Morden.

Die Hintergründe des Attentats sind bis heute nicht geklärt. Neben dem ruandischen Präsidenten kamen auch Burundis Staatschef Cyprien Ntaryamira und die gesamte französische Crew ums Leben. In der offiziellen Geschichtsschreibung wird der Anschlag extremistischen Hutu zugeschrieben, die sich eines Präsidenten entledigen wollten, der die Macht mit den Tutsi teilen wollte.

Erst die Ermittlungen des französischen Richters Jean-Louis Bruguiere ergaben ein anderes Bild der Ereignisse des 6. April 1994. Bruguiere wirft dem damaligen Rebellenchef und heutigen Präsidenten Ruandas, Paul Kagame, und neun seiner Mitstreiter vor, an dem Abschuss beteiligt gewesen zu sein. Die Untersuchungen stützen sich auf den Bericht des UN-Ermittlers Michael Hourigan. Der enthält die Aussagen dreier ehemaliger Tutsi-Rebellen, die in den Abschuss verwickelt gewesen sein wollen. Als Angehörige einer Eliteeinheit der FPR unter Führung Kagames seien sie ausschließlich mit »Sonderaufträgen« betraut worden. Einer dieser Aufträge sei der Abschuss der Präsidentenmaschine gewesen. Das Attentat sollte die Machtübernahme durch die FPR ermöglichen. In Uganda trainiert und von den USA ausgerüstet, waren die FPR-Rebellen der Armee der Hutu-Regierung weit überlegen.

Aufgrund der Ermittlungen Bruguieres erließ Frankreich 2006 Haftbefehl gegen neun Weggefährten Kagames, darunter seine Protokollchefin Rose Kabuye. Sie wurde im November 2008 am Frankfurter Flughafen festgenommen und den französischen Behörden überstellt. Kabuye ist derzeit in Frankreich auf freiem Fuß und wartet auf ihren Prozess. Zum Jahreswechsel reiste sie sogar für ein paar Tage nach Ruanda. Sie ist sich sicher, dass »die Wahrheit siegen« werde, sagte sie vor ihrem Abflug nach Ruanda. Im August 2008 konterte die Regierung Kagame mit einem Untersuchungsbericht, in dem Frankreich eine aktive Rolle beim Völkermord vorgeworfen wird.

15 Jahre nach dem ruandischen Albtraum ist das Land trotz gravierender Defizite bei Menschenrechten unter Kagame zu einem der stabilsten Staaten der Region geworden. Und der Präsident hat große Pläne, die bei westlichen Gebern Zustimmung finden. Ruanda möchte nicht mehr als das Land des Genozids wahrgenommen werden, sondern als die wirtschaftliche Hoffnung Ostafrikas. Geht es nach Kagames »Vision 2020«, soll Ruanda in elf Jahren als Investitionstandort an der Spitze Ostafrikas stehen. Dafür setzt Kagame auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs und einen flächendeckenden Ausbau der Bildungsinstitutionen und der Infrastruktur. Nach eigenen Angaben verzeichnete Ruanda im vergangenen Jahr ein Wirtschaftswachstum von 11 Prozent. Doch von diesem Boom profitiert in erster Linie die Tutsi-Elite, während mehr als 60 Prozent der mehrheitlichen Hutu-Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Das erschwert die Versöhnung zwischen Tätern und Opfern, die für Ruanda so wichtig wäre. Für die traumatisierten Überlebenden des Genozids ist es ohnehin problematisch, mit der Vergangenheit abzuschließen. Immer mehr Mörder und Vergewaltiger von damals kehren aus den völlig überfüllten Gefängnissen Ruandas in ihre Dörfer zurück, wo sie mit den Überlebenden Tür an Tür leben.

Selbst 15 Jahre nach dem Genozid sind noch immer nicht alle Täter verurteilt. Um die Masse der Prozesse bewältigen zu können, wurden die traditionellen Gacaca-Gerichte wieder eingeführt. Rund 13 000 dieser Dorfgerichte tagen landesweit ein-, zweimal die Woche unter freiem Himmel.

Auch die meisten der Drahtzieher sind noch immer in Freiheit. Ihre Fälle werden am Internationalen Strafgerichtshof in Arusha (Tansania) verhandelt, der trotz eines jährlichen Budgets von einer halben Million Dollar bisher gerade mal 30 Täter verurteilt hat. Den Bericht des UN-Ermittlers Hourigan über die Verstrickung Kagames in den Anschlag von 1994 wies das Tribunal zurück. Die Sache falle nicht unter das Mandat des Gerichtshofs, hieß es zur Begründung. Ob Kagames Verantwortung je juristisch geprüft wird, ist fraglich. Nach französischem Recht darf er als Staatschef nicht strafrechtlich verfolgt werden. Und als Liebling des Westens und Verbündeter der USA wird er kaum mit einem internationalen Haftbefehl rechnen müssen.

Chronologie - Die Vorgeschichte

  • 1935: Erstmalige offizielle Unterscheidung zwischen Hutu, Tutsi und Twa durch die belgische Kolonialmacht.
  • 1959-1966: Aufstand der Hutu-Bauern gegen Tutsi-Vorherrschaft; Massenflucht von Tutsi in Nachbarländer; Invasionsversuche einer Tutsi-Guerilla; Massaker an Tutsi (mindestens 75 000 Tote)
  • 1. 7. 1962: Unabhängigkeitserklärung; völkerrechtliche Trennung von Burundi
  • 5. 7. 1973: Staatsstreich; Präsident wird General Juvénal Habyarimana.
  • 17. 12. 1978: Referendum; angeblich 89,9 Prozent Zustimmung für Einparteiensystem und lebenslange Präsidentschaft Habyarimanas
  • Oktober 1990: Einmarsch der Front Patriotique Rwandaise (FPR) aus Uganda, durch militärische Intervention Belgiens und Frankreichs abgewehrt; Paul Kagame beendet eine Militärausbildung in den USA und wird Befehlshaber der Ruandischen Patriotischen Front (FPR).
  • 13. 11. 1990: Präsident Habyarimana kündigt politische Öffnung und Zulassung anderer Parteien an.
  • 29. 3. 1991: Waffenstillstandsabkommen der Habyarimana-Regierung mit der FPR
  • Februar 1993: FPR rückt bis kurz vor Kigali vor; ca. 1 Million Hutu leben seither in Lagern nahe der Hauptstadt unter miserablen Bedingungen.
  • 6. 4. 1994: Tod Habyarimanas durch Abschuss seines Flugzeuges; FPR-Armee intensiviert ab 7. 4. militärische Operationen zur Eroberung der Macht; Beginn eines 100-tägigen Genozids radikalisierter Hutu an Tutsi und gemäßigten Hutu (laut UN mindestens 800 000, nach nationalen Angaben 936 000 Todesopfer)


* Aus: Neues Deutschland, 7. April 2009


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