Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Einmal Verlierer, immer Verlierer?

Bukarester Sommerimpressionen zwischen Selbstmitleid und Selbstbehauptung

Von Michael Müller, Bukarest *

Die Rumänen sind ein stolzes wie nationalbewusstes Völkchen. Die vermeintliche Auszeichnung, auf »der lateinischen Insel im slawischen Meer« leben zu dürfen, hat, Jahrhunderte lang durch alle Systeme hindurch gehätschelt, tiefe Spuren hinterlassen. Aber irgendwie entwickeln Rumänen dennoch ganz gern die geradezu masochistische Larmoyanz des immerwährenden Verlierers. Und das scheint keine Koketterie zu sein, sondern tiefe Überzeugung.

Manche ihrer Balkannachbarn sehen darin nicht etwa nur eine leichte Psychose, sondern achselzuckend bis abfällig rumänische Realität. Bei den Bulgaren auf der südlichen Donauseite beispielsweise ist das seit langem auch sprichwörtlich: Wlasite se dawjet na kraja Dunawa. Was so viel heißt wie: Die Walachen ertrinken bereits am Donauufer – übertragen gebraucht in einem Fall, bei dem schon alles schief geht, bevor es überhaupt begonnen hat.

Nur wenig gelindert worden ist dieses Verlierertrauma von der eigentlich Hoffnung gebenden Entwicklung Rumäniens nach dem Ende des »großen Sprunges« im letzten Ceausescu-Jahrzehnt, der zwar im Vergleich zum chinesischen Vorbild ein winziger, für das Volk indes ein nicht weniger katastrophaler gewesen ist. Und leider bekommt es auch immer wieder Nahrung. Selbst im Popzeitalter. Als Michael Jackson Ende der 90er Jahre durch Rumänien tourte, feierten ihn in Bukarest fast 100 000 Fans. Und wie wurden sie von ihrem Idol begrüßt? – »Hallo, I'm here and I love Budapest!« Armes Bukarest.

Der Puls rast

Dabei ist Bukarest, das in Ceausescu-Endzeit bei Tristesse in Geschäften und Restaurants, auf Straßen und Plätzen neben Albanien sicher den Europarekord hielt, inzwischen eine schier rastlose, wachsende, aber auch belastend-gewöhnungsbedürftige Stadt geworden. Selbst im Sommer pulsiert zwischen dem Platz des Sieges, dem Römischen Platz und dem Universitätsplatz entlang der großen Boulevards, viel mehr aber noch in den kleinen Nebenstraßen, das pralle Leben. Steigende Einkommen und ebenso wachsender Konsum scheinen nicht nur auf dem Statistikpapier zu stehen. »Wenn mein Einkommen jährlich um 25 Prozent wächst, kann ich sogar ein Leben auf Pump riskieren«, kennzeichnet Andres Grof, österreichischer Handelskommissär, die Situation aus seiner Sicht.

Österreich ist Rumäniens maßgeblichster Wirtschaftspartner. Und aus Österreichischer Sicht mag Grofs Einschätzung auch zutreffen. Von »Billa«, dem größten österreichischen Lebensmittelhändler, heißt es, dass sein Durchschnittsumsatz pro Kunde in Rumänien bereits höher sei als daheim. Der Konzern gibt laut der englischsprachigen Bukarester Zeitung »Nine o'clock« an, die derzeitige Zahl seiner Supermärkte in den kommenden drei Jahren zu verzehnfachen, von 20 auf 200.

Espresso und Schuhe

Nicht so euphorisch, aber dennoch unverbissen optimistisch sehen das Alexandra Cristea und Adrian Popescu, die sich in der Mittagspause in einem kleinen Cafe in der Ion-Chica-Straße nahe der Uni treffen. »Der Espresso für fünf Lei (ein Euro etwa 3,50 Lei – d. A.) und der Taxikilometer für 1,60 klingt für westeuropäische Ohren sicher märchenhaft. Aber Schuhe und Jeans sind hier so teuer wie dort. Ich habe im Monat bloß rund 700 Lei flüssig«, sagt Alexandra, die gleich in der Nähe im Laden eines Telefonanbieters arbeitet.

Ihr Freund, Student der Betriebswirtschaft, nickt, meint aber, dass man zusammen schon auskäme. Er mache gerade ein Praktikum bei Baumax (auch ein österreichisches Unternehmen – d. A.), und hofft, dass »der Boom bei uns anhält. Die Bauwirtschaft hat nach dem EU-Beitritt einen ordentlichen Schub bekommen«, sagt er. Auf die Frage, ob die beiden ihr Glück so wie bislang zwei Millionen ihrer – vor allem junger – Landsleute nicht doch lieber im Ausland versuchen wollten, wehren sie ab. Adrian rasselt Wirtschaftswachstumszahlen herunter, verweist auf die zu erwartende Rekordernte in diesem Jahr, auf das mögliche Abflauen der Inflation.

Zugegeben, eine zufällige Momentaufnahme. Aber sie klingt erfreulicher Weise, und dies gerade von zwei jungen Leuten, so, als wenn nach den Verliererzeiten irgendwo neue Hoffnung keimt. Mit westeuropäischen Augen gesehen, scheint diese Hoffnung indes sehr fragil. Aufschwung in Bukarest seit 1991 bedeutet beispielsweise auch die höchste McDonald's-Dichte Europas und einen Sprung der Pkw-Zahlen von 160 000 auf rund 1,2 Millionen. Nun rechnet Bürgermeister Sorin Oprescu zwar vor, dass eine stringente Parkraumbewirtschaftung allein der rund 400 000 Firmen- und Geschäftswagen jährlich umgerechnet 48 Millionen Euro einbrächte – doch für diese Parkraumbewirtschaftung gibt es noch nicht einmal die nötige Fläche, geschweige denn Stellplätze mit Parkuhren.

In einem Teufelskreis scheint auch die Rekonstruktion und Erneuerung von öffentlichen wie von Wohngebäuden zu stecken. Letztere wurden nach 1991 fast gänzlich privatisiert, womit der Staat aber auch die Unterhaltungsverpflichtung los war. Glücklicherweise, ist man fast versucht zu sagen. Denn Oprescu als neuen Bukarester Bürgermeister dürfte bereits das Problem der rund 30 000 herrenlosen Hunde in der Stadt bis über seine Amtszeit hinaus begleiten. So wie schon alle seine Vorgänger, mutmaßte kürzlich die Tageszeitung »Ultima Ora«.

Da hat die rumänische Landesregierung ganz andere Sorgen. Einmal die, überhaupt in den Sesseln zu überdauern; aber die nächsten Parlamentswahlen im Spätherbst 2008 sind in Sichtweite. Und dann vor allem die, von der EU als Strafe für ungenügende Korruptionsbekämpfung Mittel gestrichen zu bekommen. Vor gut zwei Wochen war der Kelch gerade mal an ihr vorbei gegangen.

Das Korruptionsproblem, über das einerseits viele Rumänen im Alltag klagen, um sich andererseits traditionell auch selbst immer wieder damit zu arrangieren, ist offenbar hoffnungslos verwurzelt. Auf die administrative Schwäche im Kampf dagegen wies Daniel Morar, Chefermittler der Nationalen Antikorruptionsbehörde (DNA), jüngst in der Zeitung »Gardianul« hin. Was seine Behörde leiste, würde nicht in zwingende politische Entscheidungen umgesetzt. Warum? – »Politiker kommen und gehen eben und lassen die Staatsanwälte alleine.« Außerdem koste Antikorruptionskampf auch etwas.

Dass es an Geld andernorts durchaus nicht fehlt, konnte man gerade dem »Rumanian Online Courier« entnehmen. Das Verteidigungsministerium werde die alten MiG 21 Lancer durch 48 neue Maschinen eines NATO-Typs ersetzen: Stückpreis bis zu 110 Millionen US-Dollar. Und das erwägt ein Ministerium, das in einer Stadt sitzt, in der alle Stromkabel immer noch nicht unterirdisch verlaufen, sondern gebündelt oben von Lichtmast zu Lichtmast. Aber was will ein Bürgermeister groß dagegen machen, zumal er von einer Parteienkoalition gestützt wird, zu der auch die national-populistische Neue Generation eines Gigi Becali gehört.

Ceausescu übertrumpft

Dieser Makedo-Rumäne, einst Schafhirte, ist zwar inzwischen nur noch Milliardär Nr. 2 des Landes. Er steht ob seiner Vita aber exemplarisch für die gesamte erste Reihe des Hassardeurkapitalismus, der den Katastrophensozialismus ablöste. Allerdings hatte die Ceausescu-Riege von solchen Villen, wie der von Becali an der Ecke Alexandrustraße / Aviatorilor Boulevard nur träumen können.

Die da völlig machtlose DNA macht indes auf Aktionismus. Etwa mit einem Plakat, sinnigerweise auch direkt über den Köpfen von Grenz- und Zollbeamten auf dem Bukarester Flughafen. Eine gespannte Mausefalle ist da zu sehen, mit einer Rolle Geldscheine als Köder und einer Hand, die zugreifen will. Darüber die Mahnung: Nu aproba coruptia! (Versuchs erst gar nicht mit Korruption!). Leider bekommen Leute, die es eigentlich anginge, solch ein Plakat noch nicht mal zu sehen, weil sie an Zöllnern wie Grenzern vorbei geschleust werden. Man ist fast schon wieder geneigt, den Rumänen zuzugestehen, dass am Ende wieder sie die Verlierer sind.

* Aus: Neues Deutschland, 9. August 2008


Zurück zur Rumänien-Seite

Zurück zur Homepage