Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Rumänien in Aufruhr

Opposition und Gewerkschaften rufen zu Dauerprotest auf

Von Silviu Mihai, Bukarest *

Am Dienstagnachmittag (17. Jan.), kurz vor Redaktionsschluss, sammelten sich auf dem Universitätsplatz in Bukarest erneut Protestierende. Für die ganze Woche haben Opposition und Gewerkschaften zu Abenddemonstrationen aufgerufen, für Donnerstag ist eine große Kundgebung geplant.

Am Dienstagvormittag rückten die orange-farbenen Reinigungswagen erneut in die Bukarester Altstadt aus. Die kleinen Gassen beiderseits des Bratianu-Boulevards sahen wieder aus wie 1989, in den ersten Tagen nach dem Sturz Nicolae Ceausescus: Schaufenster lagen in Trümmern, Cafés in dem beliebten Ausgehviertel blieben geschlossen, überall gähnten Lücken im Kopfsteinpflaster. »Es ist unser dritter Einsatz seit gestern Abend, und morgen geht’s bestimmt wieder von vorne los«, ahnte einer der Arbeiter.

Über 10 000 Menschen hatten sich am Montagabend (16. Jan.) in Bukarest und anderen rumänischen Großstädten versammelt, um gegen Staatspräsident Traian Basescu und gegen die drastischen Sparmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Es war der vierte Protestabend, und die spontanen Kundgebungen zogen trotz Kälte mehr Teilnehmer an als am Wochenende. »Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und seiner Regierung, sie haben das Land in die Katastrophe geführt«, ließ die 60-jährige Gabriela Vernat Dampf ab. »Ich habe 35 Jahre als Lehrerin gearbeitet, jetzt muss ich mich für meine Rente schämen und kann nicht mal die Heizungsrechnungen bezahlen. Das ist eine furchtbare Erniedrigung«, empörte sie sich, als die ersten Schneeflocken auf den Universitätsplatz fielen.

»Nieder mit Basescu«, riefen Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten. Gegen 21 Uhr schlossen sich 100 Studenten der bunten Menge an. »Wir protestieren gegen die Korruption der Politiker und gegen die krasse soziale Ungleichheit«, erklärte der 21-jährige Catalin, der seinen Nachnamen nicht verraten wollte.

Wie schon am Vorabend eskalierte die Gewalt in späteren Stunden, wenngleich nicht so heftig wie in der Nacht zu Montag: Zwischen dem Vereinigungs- und dem Universitätsplatz lieferten sich einige Protestler regelrechte Schlachten mit der Polizei. Steine und Molotowcocktails flogen. Laut Angaben der Ordnungspolizei, hierzulande Gendarmerie genannt, wurden in der Nacht knapp 120 Menschen festgenommen, am Sonntagabend (15. Jan.) waren es doppelt so viele.

Auslöser der Protestaktionen war ein vorerst gescheiterter Versuch der Regierung, das Gesundheitssystem des Landes grundlegend zu reformieren. Die ursprünglichen Pläne sahen die komplette Privatisierung der staatlichen Krankenkasse und eine weitgehende Neustrukturierung des Krankenhausnetzes vor. Staatspräsident Traian Basescu und seine Demokratisch-Liberale Partei (PDL) wollten das Gesetz im Parlament durchpeitschen, scheiterten aber an der systematischen Opposition von Ärzten, Beamten und Bevölkerung. »Dieses Projekt schafft ein US-amerikanisches Gesundheitssystem, Rumänien würde damit zu einer Ausnahme in Europa«, kommentierte der Politologe Daniel Barbu von der Bukarester Universität. Basescu gab den Plan vorerst auf - doch die Proteste dauern an.

* Aus: neues deutschland, 18. Januar 2012


Ein Bumerang trifft Präsident Basescu

Rumäniens Staatschef beschimpfte den "linken" Arafat – und zog Volkes Zorn auf sich

Von Anton Latzo *


Die Proteste in Bukarest und anderen größeren Städten Rumäniens haben Politik und Gesellschaft Rumäniens aufgeschreckt und international Aufmerksamkeit erregt.

Stein des Anstoßes war ein Konflikt um das System der Dringenden Medizinischen Hilfe (SMURD), ein funktionierendes und durchaus vorzeigbares Element des rumänischen Gesundheitswesens. Kein Wunder, dass private »Unternehmer « danach trachten, den allgemeinen Gepflogenheiten zu folgen und dieses System zu nutzen, um sich die eigenen Taschen zu füllen. Sie drängten auf eine gesetzliche Grundlage, die es erlaubt, das bisher öffentlich, auf Stiftungsgrundlage funktionierende System auch kommerziell zu nutzen.

Dem widersetzte sich der Gründer des Notdienstes, Raed Arafat, ein rumänischer Staatsbürger palästinensischer Herkunft, der seit 2009 Unterstaatssekretär im Gesundheitsministerium war. Eine öffentlich, im Fernsehen, ausgetragene Kontroverse zwischen Arafat und Präsident Traian Basescu zog den Rücktritt des Unterstaatssekretärs nach sich. Basescu beschuldigte ihn, wie die Tageszeitung »Adevarul« berichtete, »linker Standpunkte«, die darauf hinausliefen, dass »nur der Staat im System der Dringenden Medizinischen Hilfe vertreten sein soll«. Der Präsident wollte »Elemente des privaten Sektors« auf das System aufsetzen.

Arafat wurde in Rumänien zum Volkshelden. Aus Sympathiekundgebungen für ihn erwuchsen die derzeitigen Proteste, die auch durch den Rückzug des Gesetzentwurfs durch die Regierung nicht eingedämmt werden konnten. Denn der Widerstand gegen eine Privatisierung des Gesundheitswesens ist längst nicht das einzige Motiv. Vielmehr widerspiegeln die Ereignisse die wachsende Empörung in der Bevölkerung, die unter der drastischen, im Jahre 2010 von der EU und dem Internationalen Währungsfonds diktierten Sparpolitik der Regierung leidet. Sämtliche Löhne und Gehälter wurden um 25 Prozent gekürzt, zahlreiche Sozialleistungen und über 100 000 Stellen gestrichen, die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent erhöht. Eine zweistellige Arbeitslosenrate, Durchschnittslöhne von knapp 350 Euro und Renten von 160 Euro nach 37 Jahren Arbeit stehen der Bereicherung einer dünnen Schicht und – damit verbunden ~ politischer und ökonomischer Korruption gegenüber.

Die Empörung drängt zwar noch nicht nach politischer Organisation. Doch sind die Proteste gegen Staatspräsident Traian Basescu die größten seit dessen erstmaliger Wahl im Jahre 2004. Auf allen Kundgebungen, nicht nur in Bukarest, wird inzwischen Basescus Rücktritt wegen zunehmend autoritären Gebarens gefordert. »Basescu = Ceausescu« hieß es auf einem Kreuz, das in Bukarest während der Proteste getragen wurde. Ein anderer verglich den Präsidenten gar mit dem KZ-Arzt Mengele.

Die regierende PLD hat inzwischen Außenminister Teodor Baconschi vorgeschickt, um die Gesellschaft zu besänftigen. Baconschi räumte ein, dass sich die politische Elite in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu sehr vom Volk entfernt hätte, so habe sich das Gefühl eines »erdrückenden bürokratischen Staates« verfestigt.

Auch Ministerpräsident Emil Boc rief zum Dialog auf und erklärte am Dienstag, Raed Arafat werde wieder die Leitung des Notfall- Rettungsdienstes SMURD übernehmen. Doch schon am Montag hatte der Premier vor der Presse bekräftigt: »Die Sparmaßnahmen waren und bleiben notwendig. Was heute in Europa passiert, zeigt, dass wir recht hatten.« Die Kundgebungen indes verdeutlichen, dass Rumänien – weit über den konkreten Anlass hinaus – an einer zugespitzten Autoritätskrise leidet.

** Aus: neues deutschland, 18. Januar 2012


Zurück zur Rumänien-Seite

Zurück zur Homepage