Rumänien in Aufruhr
Opposition und Gewerkschaften rufen zu Dauerprotest auf
Von Silviu Mihai, Bukarest *
Am Dienstagnachmittag (17. Jan.), kurz vor Redaktionsschluss, sammelten sich auf dem Universitätsplatz in Bukarest erneut Protestierende. Für die ganze Woche haben Opposition und Gewerkschaften zu Abenddemonstrationen aufgerufen, für Donnerstag ist eine große Kundgebung geplant.
Am Dienstagvormittag rückten die orange-farbenen Reinigungswagen erneut in die Bukarester Altstadt aus. Die kleinen Gassen beiderseits des Bratianu-Boulevards sahen wieder aus wie 1989, in den ersten Tagen nach dem Sturz Nicolae Ceausescus: Schaufenster lagen in Trümmern, Cafés in dem beliebten Ausgehviertel blieben geschlossen, überall gähnten Lücken im Kopfsteinpflaster. »Es ist unser dritter Einsatz seit gestern Abend, und morgen geht’s bestimmt wieder von vorne los«, ahnte einer der Arbeiter.
Über 10 000 Menschen hatten sich am Montagabend (16. Jan.) in Bukarest und anderen rumänischen Großstädten versammelt, um gegen Staatspräsident Traian Basescu und gegen die drastischen Sparmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Es war der vierte Protestabend, und die spontanen Kundgebungen zogen trotz Kälte mehr Teilnehmer an als am Wochenende. »Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und seiner Regierung, sie haben das Land in die Katastrophe geführt«, ließ die 60-jährige Gabriela Vernat Dampf ab. »Ich habe 35 Jahre als Lehrerin gearbeitet, jetzt muss ich mich für meine Rente schämen und kann nicht mal die Heizungsrechnungen bezahlen. Das ist eine furchtbare Erniedrigung«, empörte sie sich, als die ersten Schneeflocken auf den Universitätsplatz fielen.
»Nieder mit Basescu«, riefen Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten. Gegen 21 Uhr schlossen sich 100 Studenten der bunten Menge an. »Wir protestieren gegen die Korruption der Politiker und gegen die krasse soziale Ungleichheit«, erklärte der 21-jährige Catalin, der seinen Nachnamen nicht verraten wollte.
Wie schon am Vorabend eskalierte die Gewalt in späteren Stunden, wenngleich nicht so heftig wie in der Nacht zu Montag: Zwischen dem Vereinigungs- und dem Universitätsplatz lieferten sich einige Protestler regelrechte Schlachten mit der Polizei. Steine und Molotowcocktails flogen. Laut Angaben der Ordnungspolizei, hierzulande Gendarmerie genannt, wurden in der Nacht knapp 120 Menschen festgenommen, am Sonntagabend (15. Jan.) waren es doppelt so viele.
Auslöser der Protestaktionen war ein vorerst gescheiterter Versuch der Regierung, das Gesundheitssystem des Landes grundlegend zu reformieren. Die ursprünglichen Pläne sahen die komplette Privatisierung der staatlichen Krankenkasse und eine weitgehende Neustrukturierung des Krankenhausnetzes vor. Staatspräsident Traian Basescu und seine Demokratisch-Liberale Partei (PDL) wollten das Gesetz im Parlament durchpeitschen, scheiterten aber an der systematischen Opposition von Ärzten, Beamten und Bevölkerung. »Dieses Projekt schafft ein US-amerikanisches Gesundheitssystem, Rumänien würde damit zu einer Ausnahme in Europa«, kommentierte der Politologe Daniel Barbu von der Bukarester Universität. Basescu gab den Plan vorerst auf - doch die Proteste dauern an.
* Aus: neues deutschland, 18. Januar 2012
Ein Bumerang trifft Präsident Basescu
Rumäniens Staatschef beschimpfte den "linken" Arafat – und zog Volkes Zorn auf sich
Von Anton Latzo *
Die Proteste in Bukarest und anderen
größeren Städten Rumäniens haben
Politik und Gesellschaft Rumäniens
aufgeschreckt und international Aufmerksamkeit
erregt.
Stein des Anstoßes war ein Konflikt
um das System der Dringenden
Medizinischen Hilfe (SMURD), ein
funktionierendes und durchaus
vorzeigbares Element des rumänischen
Gesundheitswesens. Kein
Wunder, dass private »Unternehmer
« danach trachten, den allgemeinen
Gepflogenheiten zu folgen
und dieses System zu nutzen, um
sich die eigenen Taschen zu füllen.
Sie drängten auf eine gesetzliche
Grundlage, die es erlaubt, das bisher
öffentlich, auf Stiftungsgrundlage
funktionierende System auch
kommerziell zu nutzen.
Dem widersetzte sich der
Gründer des Notdienstes, Raed
Arafat, ein rumänischer Staatsbürger
palästinensischer Herkunft,
der seit 2009 Unterstaatssekretär
im Gesundheitsministerium war.
Eine öffentlich, im Fernsehen,
ausgetragene Kontroverse zwischen
Arafat und Präsident Traian
Basescu zog den Rücktritt des Unterstaatssekretärs
nach sich. Basescu
beschuldigte ihn, wie die
Tageszeitung »Adevarul« berichtete,
»linker Standpunkte«, die darauf
hinausliefen, dass »nur der
Staat im System der Dringenden
Medizinischen Hilfe vertreten sein
soll«. Der Präsident wollte »Elemente
des privaten Sektors« auf
das System aufsetzen.
Arafat wurde in Rumänien zum
Volkshelden. Aus Sympathiekundgebungen
für ihn erwuchsen
die derzeitigen Proteste, die auch
durch den Rückzug des Gesetzentwurfs
durch die Regierung nicht
eingedämmt werden konnten.
Denn der Widerstand gegen eine
Privatisierung des Gesundheitswesens
ist längst nicht das einzige
Motiv. Vielmehr widerspiegeln die
Ereignisse die wachsende Empörung
in der Bevölkerung, die unter
der drastischen, im Jahre 2010
von der EU und dem Internationalen
Währungsfonds diktierten
Sparpolitik der Regierung leidet.
Sämtliche Löhne und Gehälter
wurden um 25 Prozent gekürzt,
zahlreiche Sozialleistungen und
über 100 000 Stellen gestrichen,
die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent
erhöht. Eine zweistellige Arbeitslosenrate,
Durchschnittslöhne von
knapp 350 Euro und Renten von
160 Euro nach 37 Jahren Arbeit
stehen der Bereicherung einer
dünnen Schicht und – damit verbunden
~ politischer und ökonomischer
Korruption gegenüber.
Die Empörung drängt zwar
noch nicht nach politischer Organisation.
Doch sind die Proteste
gegen Staatspräsident Traian Basescu
die größten seit dessen erstmaliger
Wahl im Jahre 2004. Auf
allen Kundgebungen, nicht nur in
Bukarest, wird inzwischen Basescus
Rücktritt wegen zunehmend
autoritären Gebarens gefordert.
»Basescu = Ceausescu« hieß es auf
einem Kreuz, das in Bukarest
während der Proteste getragen
wurde. Ein anderer verglich den
Präsidenten gar mit dem KZ-Arzt
Mengele.
Die regierende PLD hat inzwischen
Außenminister Teodor Baconschi
vorgeschickt, um die Gesellschaft
zu besänftigen. Baconschi räumte
ein, dass sich die politische Elite in
den vergangenen zwei Jahrzehnten
zu sehr vom Volk entfernt hätte,
so habe sich das Gefühl eines
»erdrückenden bürokratischen
Staates« verfestigt.
Auch Ministerpräsident Emil
Boc rief zum Dialog auf und erklärte
am Dienstag, Raed Arafat
werde wieder die Leitung des Notfall-
Rettungsdienstes SMURD
übernehmen. Doch schon am
Montag hatte der Premier vor der
Presse bekräftigt: »Die Sparmaßnahmen
waren und bleiben notwendig.
Was heute in Europa passiert,
zeigt, dass wir recht hatten.«
Die Kundgebungen indes verdeutlichen,
dass Rumänien – weit über
den konkreten Anlass hinaus – an
einer zugespitzten Autoritätskrise
leidet.
** Aus: neues deutschland, 18. Januar 2012
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