Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

In Portugal brodelt es

Verfassungsgericht kassiert Sparbeschlüsse und Regierung hat keinen Plan B

Von Ralf Streck, San Sebastián *

Portugals Ministerpräsident Pedro Passos Coelho steckt in der Zwickmühle: Das Verfassungsgericht hat seinen von der Troika geforderten Sparkurs in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Ohne Haushaltskürzungen sind wiederum die Aussichten auf neue Hilfen von der Troika schlecht und alleine kommt Portugal nicht über die Runden.

Portugals Krise schlägt auf den Magen. Am Sonntagabend nach Redaktionsschluss und vor dem gewöhnlich späten portugiesischen Abendessen wollte Ministerpräsident Pedro Passos Coelho mit einer Rede an die Nation die Gemüter besänftigen. Grund der Erregung: Was die portugiesische Bevölkerung bei Demonstrationen seit Langem zum Ausdruck bringt, ist nun höchstrichterlich bestätigt werden: Teile des drakonischen Sparprogramms verstoßen gegen die Rechte der Bürger und sind schlicht verfassungswidrig.

Das Verfassungsgericht hatte am Freitag vier Sparbeschlüsse im Budget 2013 für verfassungswidrig erklärt - unter anderem die Kürzungen von Urlaubsgeldern für Beamte, Angestellte des öffentlichen Diensts und für Rentner sowie Einschnitte bei der Arbeitslosenhilfe und beim Krankengeld.

Die Regierung muss nun neue Sparbeschlüsse fassen, um die Vereinbarungen mit der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) einzuhalten. Die Regierung hofft nun offenbar darauf, dass ihre ausländischen Geldgeber die Frist zur Rückzahlung von Krediten weiter verlängern.

Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva versucht unterdessen, den Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho zu stützen. Beide Konservative kamen am Samstagabend zum Krisengespräch zusammen. Danach veröffentlichte Cavaco eine kurze Erklärung. Er hält die Regierung »weiter in der Lage dazu, ihr demokratisches Mandat auszuüben«. Die international eingegangenen Verpflichtungen würden erfüllt und der »Konsens zum Schutz höchster nationaler Interessen« erreicht, versicherte er.

Daran gibt es enorme Zweifel. Der sozialistische Oppositionsführer António José Seguro forderte mit der gesamten Opposition vorgezogene Neuwahlen, weil die Regierung »nicht in der Lage ist, die Probleme zu lösen«. Seguro hielt auch Cavaco Widersprüche vor. Denn der hatte »berechtigte Zweifel«, ob der Haushalt mit der Verfassung vereinbar sei. Erst halte er die Lage im Land für untragbar und plötzlich erkläre er sie für tragfähig, kritisierte Seguro den Staatspräsidenten.

Der bisherige Konsens mit den Sozialisten (PS) war erst vergangene Woche zerbrochen. Die PS hatte erstmals - erfolglos - einen Misstrauensantrag gegen Coelho gestellt. Fast zwei Jahre lang hatten sie seinen Sparkurs mitgetragen. »Es reicht«, sagte Seguro im Parlament, weil es trotz harter Opfer keine Fortschritte gebe, das Land nur tiefer in die Rezession gerate und die Arbeitslosigkeit steigt.

Das Verfassungsgerichtsurteil ist vernichtend. Gerichtspräsident Joaquim Sousa Ribeiro warf den Konservativen ein »Suchtverhalten« bei Verfassungsverstößen vor. »Die Gesetze und der Haushalt müssen sich an die Verfassung anpassen und nicht die Verfassung an den Haushalt«, sagte er. Vier von neun geprüften Maßnahmen sind verfassungswidrig. Die Verfassung schreibt vor, Lasten müssten gleichmäßig verteilt und verhältnismäßig sein.

Die Regierung muss Rentnern und Beschäftigten im öffentlichen Dienst nun das Weihnachtsgeld wieder bezahlen, das eingespart werden sollte. Beide Gruppen mussten längst harte Kürzungen hinnehmen. Bezieher von Arbeitslosen- und Krankengeld müssen keine Beiträge zur Sozialversicherung zahlen. Die starke Anhebung der Einkommenssteuersätze bleibt hingegen bestehen.

Weil Coelho der Wiederholungstat beschuldigt wird, muss nun nachgezahlt werden. 2012 hatte das Verfassungsgericht dies aus »höherem Interesse« nicht angeordnet, als das Urlaubs- und Weihnachtsgeld verfassungswidrig gestrichen wurde. Das geschah mit Blick auf die von der Troika im Rahmen des Rettungsprogramms verordneten Auflagen.

Für 2013 geplante Einsparungen in einer Höhe von 1,3 Milliarden Euro können nun nicht realisiert werden. Die Regierung denkt über »Alternativen« nach, doch Coelho selbst hatte schon vor dem Urteil erklärt, man habe keine. Ohnehin hat Portugal schon 2012 das Haushaltsziel verfehlt, obwohl es auf fünf Prozent angehoben worden war. Mit 6,6 Prozent fiel das Defizit höher aus als 2011. Einnahmen der Sozialversicherung brechen wegen steigender Arbeitslosigkeit genauso ein wie die Steuereinnahmen. Und das gräbt weiter Kaufkraft ab. Deshalb musste Coelho kürzlich einräumen, dass die Wirtschaft mit 2,2 Prozent noch stärker schrumpfen würde als erwartet. Das birgt jede Menge sozialen Sprengstoff für die kommenden Monate.

* Aus: neues deutschland, Montag, 8. April 2013


UNO warnt vor Unruhen

Portugals Verfassungsgericht kippt Kürzungen. Opposition fordert Sturz der Regierung. Protestzug gegen Armut marschiert nach Lissabon

Von André Scheer **


Was kümmern schon die eigenen Gesetze, wenn Brüssel böse guckt? In Lissabon hat Regierungssprecher Luis Marques Guedes am Sonnabend die portugiesischen Verfassungsrichter attackiert, weil diese zuvor Teile des vom Kabinett beschlossenen Kürzungspakets kassiert hatten. »Die Regierung respektiert die Gerichtsentscheidung, aber warnt die Portugiesen vor den negativen Auswirkungen auf das Land«, erklärte er und beklagte, das Urteil gefährde die »hart erarbeitete Glaubwürdigkeit« Portugals.

Das Verfassungsgericht hatte nach dreimonatigen Beratungen unter anderem die Abschaffung der 14. Monatszahlung für Beamte und Rentner sowie die Einführung von Abgaben auf Arbeitslosenhilfe und Krankengeld gekippt. Nach Schätzungen gehen der Regierung dadurch bis zu 1,25 Milliarden Euro verloren, mit denen sie Forderungen der Troika aus EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) erfüllen wollte. Dagegen hatten die linken Opposi­tionsparteien, aber auch Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva geklagt. Dieser erklärte, der Haushalt wecke »berechtigte Zweifel an der Gerechtigkeit bei der Verteilung der Opfer«. Seine eigene Partei, die konservative PSD, bringt er damit in Schwierigkeiten. »Wir haben praktisch keinen Handlungsspielraum«, zitierte dpa die PSD-Politikerin Teresa Leal Coelho.

Trotzdem klammert sich Regierungschef Pedro Passos Coelho an seinen Sessel. »Die Voraussetzungen dafür, daß die Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt bleibt, sind gegeben«, sagte er in der Nacht zum Sonntag nach einer Krisensitzung seines Kabinetts. Für den Abend (nach jW-Redaktionsschluß) war eine Regierungserklärung angekündigt.

Die Opposition aus Sozialisten, Kommunisten und Linksblock fordert hingegen seinen sofortigen Rücktritt. Am Sonnabend machte sich im nordportugiesischen Viana do Castelo ein Protestmarsch gegen die zunehmende Verarmung der Bevölkerung auf den Weg, der bis zum 13. April das ganze Land durchziehen und am kommenden Sonnabend in einer Großkundgebung im Zentrum der Hauptstadt gipfeln soll. Portugals größter Gewerkschaftsbund CGTP-IN hatte die Aktion bereits Anfang vergangener Woche angekündigt. Auch der Generalsekretär der kommunistisch orientierten Arbeiterorganisation, Arménio Carlos, hatte dabei die Demission des Ministerpräsidenten gefordert, da sich das Land »mit großen Schritten auf den Abgrund« zubewege.

In den internationalen Organisationen wächst unterdessen die Sorge vor einer sozialen Explosion. Das gehe aus einem Bericht der UN-Arbeitsorganisation ILO hervor, der am Montag vorgestellt werden soll, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Bereits Anfang März hatte ILO-Generaldirektor Guy Ryder in einem Bericht erklärt: »Es wächst die Besorgnis, daß die Geschwindigkeit und der Umfang von Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung sowohl in den von der Krise betroffenen Ländern als auch in anderen europäischen Ländern für die angestrebten Politikziele nicht angemessen waren. (…) Dies hat sowohl legitime Demonstrationen als auch weniger friedliche Ausbrüche von Unruhen zur Folge gehabt.« In dem Papier forderte Ryder ein politisches Umsteuern: »Im Teufelskreis sich erschöpfender Ressourcen, steigender Schulden, Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und um sich greifender sozialer Unruhen kann die soziale Sicherheit eine wichtige Rolle als ein automatischer Stabilisator spielen.«

** Aus: junge Welt, Montag, 8. April 2013


Zurück zur Portugal-Seite

Zurück zur Homepage