Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Portugal vor neuen Massenprotesten

Dem Aufruf zu neuen Demonstrationen des großen Gewerkschaftsverbandes schließen sich auch die Empörten an

Von Ralf Streck *

»Alle nach Lissabon, alle zum Schlossplatz«, lautet das Motto für die heutigen Demonstrationen in der portugiesischen Hauptstadt. Nach massiven Protesten in den letzten Wochen wird erwartet, dass der große und bedeutsamste Platz in der Hauptstadt gefüllt wird. Inzwischen hatte sich auch die Empörten-Bewegung dem Aufruf angeschlossen.

Seit dem 12. September mobilisiert der kommunistisch dominierte Gewerkschaftsverband (CGTP). Man wolle gegen »neue brutale Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiter« kämpfen, sagte der CGTP-Generalsekretär Armenio Carlos. Der große Platz Terreiro do Paço in Lissabon sei noch nie voll gewesen. Am Samstag soll dies gelingen und so die »einstimmige Ablehnung« der Sparpolitik ausgedrückt werden, die vor allem die einfache Bevölkerung trifft.

Doch seither hat sich einiges getan. Wegen massiver Proteste am 15. September, zu denen die Empörten spontan aufriefen, hat die konservative Regierung zentrale Sparvorhaben längst zurückgenommen. Da sich auch die Gewerkschaften anschlossen, gingen vor zwei Wochen im ganzen Land knapp eine Million Menschen dagegen auf die Straße, dass die Regierung unter Pedro Passos Coelho den Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung von elf auf 18 Prozent erhöhen und im Gegenzug den Arbeitgeberanteil von 23,75 auf 18 Prozent senken wollte.

Damit hätten die Arbeitnehmer, die seit Beginn der Krise massiv an Kaufkraft verloren haben, erneut etwa einen Monatslohn im Jahr eingebüßt. Zudem wollte Coelho auch 2013 an der Streichung des 14. Monatsgehalts im öffentlichen Dienst festhalten. Dabei hatte das Verfassungsgericht kürzlich die Streichung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes als verfassungswidrig erklärt. Die Richter hatten die Regierung aber mit Blick auf die Sparauflagen der Troika aus Europäischer Zentralbank, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds aus »höherem Interesse« nicht zur Nachzahlung verpflichtet.

Die Proteste, wie sie Portugal seit der Nelkenrevolution 1974 nicht mehr gesehen hatte, führten auch zur Regierungskrise. Die rechte Volkspartei (CDS-PP) hatte sich genauso von den Vorhaben distanziert, wie einige von Minister von Coelhos liberal-konservativer PSD. Vergangene Woche, als ein Treffen im Präsidentenamt von gut 15 000 Menschen belagert wurde, knickte Coelho ein und nahm die von der Troika diktierten Pläne zurück. Seither wird nach Alternativen gesucht, um die Sparauflagen zu erfüllen, die viele Portugiesen längst »zum Teufel« jagen wollen. Mit weiteren Protesten soll verhindert werden, dass die Einsparungen verlagert werden. Die CGTP hat deshalb auch den 1. Oktober zum »nationalen Kampftag« erklärt, mit dem der Verband sein 42. Jubiläum begehen will. Am 5. Oktober wird zudem der »Marsch gegen die Arbeitslosigkeit« von Braga nach Lissabon losziehen. Er soll am 13. Oktober die Hauptstadt erreichen - wenn die Regierung den Haushalt vorstellen will.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. September 2012


Zurück zur Portugal-Seite

Zurück zur Homepage