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Proteste gegen Spardiktat in Portugal

Demonstranten fordern einen grundsätzlichen Politikwechsel der Lissaboner Regierung

Von Ralf Hoffrogge, Lissabon *

Die Wirtschaftskrise hat Portugal hart getroffen. Gegen die Sparpolitik der Regierung und die drohende Einschränkung der Gewerkschaftsfreiheit wächst indes der Widerstand. Am Wochenende demonstrierten tausende Menschen in Lissabon.

Tausende Menschen strömen in zwei Demonstrationszügen ins Lissaboner Zentrum. Unterschiedliche Berufsgruppen sind vertreten – Lehrer, Professoren, Krankenschwestern, Hotelangestellte. Auch Familien und Jugendliche haben sich zu den Protesten eingefunden. Ausgerüstet sind sie mit Fahnen und Bannern, Pfeifen und Hupen. Erstmals seit dem Generalstreik im November hat die portugiesische Gewerkschaftsbewegung alle Kräfte zusammengenommen und zu einem Protest gegen die Krisenpolitik der Regierung aufgerufen.

Der Zusammenbruch der Finanzmärkte hat Portugal schwer getroffen. Das Land ist hochverschuldet, zahlt mehr als sieben Prozent Zinsen für seine Auslandsanleihen und wehrt sich verzweifelt dagegen, unter den EU-»Rettungsschirm« gedrückt zu werden und damit seine finanzielle Souveränität zu verlieren. Die Alternative für den sozialistischen Ministerpräsidenten José Sócrates besteht darin, den Forderungen der Gläubiger selbst nachzukommen. Doch der Widerstand gegen die Sparpolitik wächst. Im November lähmte ein Generalstreik das Land, am 12. März folgte eine Demonstration gegen Prekarität und unsichere Arbeitsbedingungen. Nach Angaben der Veranstalter nahmen mehr als 200 000 Menschen teil, zumeist Prekäre, Arbeitslose und Illegalisierte.

Am Sonnabend (19. März) zogen die Gewerkschaften nach: Laut portugiesischen Medien nahmen tausende Menschen an der landesweit angekündigten Demonstration in Lissabon teil. Für die Angestellten des privaten und öffentlichen Sektors gab es getrennte Treffpunkte, die beiden riesigen Züge trafen sich am Platz »Praca Marques Pombal« und vereinigten sich dort.

Die Menschen sind wütend. Auf zahlreichen T-Shirts wird Premier Sócrates als Lügner mit Pinocchionase parodiert, zentrale Forderung ist der Sturz der Regierung und ein grundsätzlicher Politikwechsel. Fünf Prozent Lohnkürzungen haben die Angestellten im öffentlichen Dienst bereits hinnehmen müssen, weitere Kürzungen im Gesundheits- und Rentensystem sind in Planung.

Eine Soziologieprofessorin marschiert im Block der Gewerkschaft »Sindicato dos Professores«, in der Schul- und Hochschullehrer organisiert sind. Sie ist die einzige aus ihrer Universität. »Die Universitätsverwaltung notiert, wer sich an Protesten beteiligt, Angestellte und Lehrkräfte fürchten Repressionen. Mobbing und sozialer Druck herrschen im ganzen Land«, sagt sie. Portugal, das sich vom Armenhaus Europas zu einem Mitglied der EU-Wohlstandszone entwickelt hatte, droht nun wieder ins Elend zu sinken. Der Mindestlohn liege bei 400 Euro im Monat, manche Rentner müssten mit 100 Euro auskommen, erklärt die Soziologin. Es gehe aber nicht nur ums Sparen. Nebenbei versuche die Regierung Sócrates, elementare Arbeiterrechte abzuschaffen. Das Streikrecht soll stark eingeschränkt werden, die Gewerkschaftsfreiheit an sich sei bedroht. Bisher habe die Regierung alle Forderungen der Bevölkerung ignoriert, sagt die Frau. Die staatliche Führung wolle die Krise aussitzen. Als Folge würden rund 60 Prozent der Portugiesen nicht mehr zu den Wahlen gehen, Angst und Apathie stünden nebeneinander.

Auch die Kommunistische Partei PCP hat zur Demonstration aufgerufen. Sie sei »klein«, meint die Soziologin – nur sieben Prozent der Stimmen. Die PCP ist die älteste Partei Portugals und feiert in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen, in der Stadt hängen Plakate und Einladungen zu den Feierlichkeiten. Unter den Jahreszahlen 1921-2011 steht der Slogan »Um Projecto de Futuro« – Ein Projekt für die Zukunft. Daneben die Worte »Freiheit, Demokratie, Sozialismus«. Um nichts anderes geht es vielen hier – in Portugal geht es ums Ganze.

* Aus: Neues Deutschland, 22. März 2011


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