Nur Druck von unten erzwingt Veränderungen
ND-Interview mit José Guilherme Gusmão, Abgeordneter des portugiesischen Linksblocks
José Guilherme Gusmão, 34 Jahre alt, ist wirtschafts- und finanzpolitischer Sprecher der Fraktion des Linksblocks (Bloco de Esquerda) im portugiesischen Parlament. Der studierte Ökonom wurde in seinem Wahlkreis Santarém direkt gewählt. Seine Genossen nennen ihn den »Herrn des Haushaltsausschusses«. Martin Lejeune befragte ihn für das "Neue Deutschland" (ND) in Lissabon.
ND: Portugal ist als Niedriglohnland in der Eurozone berüchtigt. Hat das Einfluss auf die wirtschaftlichen Probleme Portugals?
Gusmão: Ja, zwei Millionen von 10,7 Millionen Portugiesen leben unterhalb der Armutsgrenze. Und bei uns sind die Kriterien für Armut weitaus schärfer als in Deutschland oder Frankreich. Diese zwei Millionen sind wirklich arm und verfügen nur über eine äußerst geringe Kaufkraft. Weitere zwei Millionen leiden unter prekären Arbeitsverhältnissen. Sie verdienen im Durchschnitt 3,40 Euro in der Stunde. Außerdem haben wir eine Arbeitslosenquote von elf Prozent. Einer Wirtschaft mit so wenig Kaufkraft, die zudem kaum mehr selber produziert und exportiert, kann es auf Dauer nicht gut gehen.
Immerhin gibt es in Portugal, anders als in Deutschland, einen Mindestlohn, der 475 Euro pro Monat beträgt.
Aber auch nur auf dem Papier. Seit der grausamen Arbeitsmarktreform der Regierung José Manuel Durão Barrosos im Jahre 2002 können Menschen als Pseudo-Teilzeitkräfte oder auf Pseudo-Provisionsbasis beschäftigt werden. In Wirklichkeit bekommen sie den Lohn, den ihr Boss ihnen von Tag zu Tag zugestehen will. Genau diese Arrangements machen es möglich, den Mindestlohn ganz legal zu umgehen. Und selbst vom Mindestlohn kann man hier mehr schlecht als recht leben. Um den Niedriglöhnen den Kampf anzusagen, müsste die Regierung die juristischen Schlupflöcher zur Unterwanderung des Mindestlohnes stopfen und ihn natürlich auch um mehr als 100 Euro erhöhen.
Einige portugiesische Ökonomen diskutieren gerade darüber, ob es für Portugal sinnvoll wäre, die Eurozone zu verlassen. Sogar Außenminister Luis Amado meint, Portugal könnte schon bald dazu gezwungen sein. Glauben Sie, dass einige Länder sich tatsächlich irgendwann veranlasst sehen könnten, die Eurozone zu verlassen?
Ja, denn ich glaube, dass Europas Führer nicht gewillt sind, politische Veränderungen vorzunehmen, die für die Stabilisierung der Eurozone unerlässlich wären. Wenn die europäische Lösung darin besteht, immer nur härtere Sparpakete zu Lasten der Bevölkerung zu schnüren, sehe ich keine Zukunft für die Eurozone. Früher oder später werden immer mehr Länder nicht mehr in der Lage sein, ihre finanzielle Versorgung sicherzustellen. Die Sparpolitik wird zu existenziellen Engpässen für die Bevölkerung führen; spätestens dann wird es unumgänglich sein, die Eurozone zu verlassen.
Könnte das auch auf Portugal zutreffen?
Wenn die Regierung Sócrates diesen brutalen Sparkurs weiterführt, von der EU-Kommission ständig genötigt wird, die Bevölkerung zur Ader zu lassen, Banken und Spekulanten auch in Zukunft nicht besteuert werden , dann sehe ich dieses Szenario – den Ausstieg aus dem Euro – für Portugal als durchaus realistisch an.
Ihre Partei sagt, dass Sparpakete das Problem der Ver- oder Überschuldung einzelner Länder nicht lösen. Worin sehen Sie den Grund für die ungleiche wirtschaftliche Lage der Staaten in der Eurozone?
Das Problem liegt vordergründig hauptsächlich in der ungleichen Handelsbilanz der Euroländer, aber auch in der derzeitigen Auf- und Verteilung des EU-Budgets und in dem grundlegend ungerechten Steuersystem in fast allen Staaten: Arbeitnehmer werden stärker belastet als der Real- und Finanzwirtschaftssektor. Auch die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) ist Teil des Problems: Selbst durch eine Senkung des Leitzinses auf ein Prozent kann die Wirtschaft nicht mehr ausreichend mit Kapital versorgt werden. Daher wären unorthodoxe Maßnahmen wie der Aufkauf portugiesischer Staatsanleihen durch die EZB zu diskutieren. Ein funktionierendes Wirtschaftssystem sollte durch eine Serie vorübergehender Maßnahmen die wirtschaftliche Entwicklung fördern und ein Gleichgewicht zwischen den Akteuren schaffen, statt die wirtschaftlichen Unterschiede zu zementieren, wie sie heute innerhalb der EU bestehen – gerade auch zwischen Portugal und Deutschland.
Und wie können die südlichen Länder der EU ihre wirtschaftlichen Probleme lösen?
Wir können uns nicht aus eigener Kraft aus diesem Tief befreien. Wir kommen nur heraus, wenn sich in der Eurozone etwas signifikant verändert. Die Menschen hier interessieren sich wegen der strukturellen Krise, die von der EU-Währungs- und Wirtschaftspolitik verursacht wurde, zwar wieder mehr für EU-Themen, aber Problembewusstsein allein reicht natürlich nicht aus, um Veränderungen herbeizuführen. Die müssen durch Taten, durch massiven Druck von unten erzwungen werden. Ein Mittel ist der Generalstreik. Wir wünschten uns natürlich auch Solidarität aus anderen Ländern. Schließlich wird Portugal gerade durch den deutschen Exportwahnsinn arg gebeutelt.
* Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010
Sócrates' soziale Grausamkeiten
Generalstreik in Portugal: Bevölkerung setzt sich gegen Sparpaket der Regierung zur Wehr / Gewerkschaften, Linksparteien und Bürgerbewegungen rufen zum Protest auf
Von Martin Lejeune, Lissabon **
»Das nächste Irland heißt Portugal«, fürchten Wirtschafts- und Finanzexperten in der EU. Doch Ministerpräsident José Sócrates beteuerte am Montag: »Portugal wird seine Probleme allein lösen.« Hilfe werde nicht benötigt. Seine Lösungen treffen indes zu Hause auf heftigen Widerstand: Für den heutigen Mittwoch ist ein Generalstreik angesagt.
Am Freitag (26. Nov.) verabschiedet die Assembleia da República, das portugiesische Parlament, die umfangreichsten Sozialkürzungen in der Geschichte des Landes seit der Nelkenrevolution 1974. Zur Rechtfertigung verweist Fernando Teixeira dos Santos, Finanzminister in der Minderheitsregierung von José Sócrates (beide Sozialistische Partei – PS), auf die Haushaltsdaten: Portugals Staatsschulden lagen Ende 2009 bei 109 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2010 schließt die Regierung mit einem Haushaltsdefizit von 7,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab. Um das Minus im kommenden Jahr auf 4,6 Prozent zu senken, setzt die Regierung – nach heftigem Druck der EU-Kommission – den Rotstift an. Für die Bevölkerung bedeutet das unter anderem Lohnkürzungen von mindestens fünf Prozent, die Minderung des Kindergeldes um 25 Prozent, eingefrorene Renten, dramatisch reduzierte Sozialleistungen und eine von 21 auf 23 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer.
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Die Banken bleiben verschont
Portugals Arbeiterschaft will das nicht widerstandslos hinnehmen. Die beiden großen Gewerkschaftsverbände CGTP-IN und UGT rufen ebenso wie die beiden linken Oppositionsparteien im Parlament – der Linksblock (Bloco de Esquerda) und die Kommunistische Partei (PCP) – zum Generalstreik auf. Auch die Anarchosyndikalisten und die Bürgerbewegung »Precários Inflexíveis«, die sich für prekär Beschäftigte einsetzt, appellieren zum Widerstand.
»Alle diese zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parteien wollen der Regierung zeigen, dass sie das Sparpaket, das nur aus sozialen Grausamkeiten für die arbeitende Bevölkerung besteht, die Banken und die Unternehmen jedoch verschont, nicht ohne unseren Protest wird durchsetzen können«, erklärt Francisco Lopes, Parlamentsabgeordneter und Kandidat der PCP für die Präsidentschaftswahlen 2011. Und José Guilherme Gusmão, wirtschaftspolitischer Sprecher des Linksblocks, weist darauf hin, dass die Errungenschaften, die sich Portugals arbeitende Bevölkerung mit der Nelkenrevolution vom 25. April 1974 erkämpft habe, »von der Regierung unter Ministerpräsident Sócrates in Frage gestellt werden«.
Erinnerungen an Streik gegen Barroso
Zuletzt hatten sich am 10. Oktober 2002 fast 90 Prozent der Arbeiter gegen ein Sparpaket auflehnt, das unter dem damaligen Ministerpräsidenten José Manuel Barroso, heute Präsident der EU-Kommission, geschnürt worden war.
Barrosos damaliger Arbeitsminister Bagão Félix hatte auch die »Flexibilisierung des Arbeitsmarkts« in Portugal durchgesetzt. Die machte es möglich, den gesetzlichen Mindestlohn von 475 Euro zu unterlaufen. Heute sind neun von zehn neuen Arbeitsplätzen prekär und 20 Prozent aller Jugendlichen, die Arbeit gefunden haben, jobben in prekären Beschäftigungsverhältnissen.
** Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010
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