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Monopoly an der Algarve

Portugal vor den Wahlen: Zwischen Massenverelendung und Kasino-Kapitalismus wächst der Wunsch nach einem "neuen 25. April". Eindrücke von der südwesteuropäischen Atlantikküste

Von Martin Wachter *

Joao Pintos Meinung zum Zustand seines Landes fällt drastisch aus. »Was ist Portugal? Früher hätten wir in die Rubrik Dritte oder Vierte Welt gepaßt. Heute sind wir der Arsch von Europa. Politik und System sind am Ende.« Die kleine Runde in einem Stehcafé in Lagos, einer Kleinstadt im äußersten portugiesischen Süden, pflichtet dem Sprachstudenten bei. Jao besucht die Universität in Lissabon, reist aber in der Sommersaison hinunter an die Algarve, um sich an der Rezeption des kleinen Hotels Geld zu verdienen. »Tourismus«, so meint er, »bedeutet für mich Zukunft.« Ob er recht hat? Derzeit scheint die Lebensperspektive in dieser vollständig vom Fremdenverkehr abhängigen Region eher unsicher. Die Krise macht sich bemerkbar mit sinkenden Besucherzahlen. Und diese wiederum schlagen sich in wachsender Armut von Teilen der Bevölkerung nieder.

Dabei geht es Lagos - im Landesmaßstab betrachtet - noch gut. Ein massentouristisches Ziel, direkt am rauhen Atlantik gelegen; der südwestlichste Punkt Europas, das Cabo de Sao Vincente, ist keine 30 Kilometer entfernt. Auf den ersten Blick scheint die Welt noch in Ordnung. Deutlich sichtbar ist die Verarmung als Massenerscheinung anderswo, besonders in den Ballungszentren, in Lissabon und den verslumten Trabantensiedlungen der Hauptstadt. Doch funken auch in der Algarve die Kommunen SOS. Im Januar dieses Jahres haben die meisten Verwaltungen der Algarve die Ausgabe von Lebensmittelmarken, Sachzuwendungen und monetären Zuschüssen eingeführt, um das schlimmste Elend zu verhindern. Oder um es zumindest zu kaschieren.

Der im östlichen Zipfel der Algarve, am portugiesisch-spanischen Grenzfluß Gurdiana gelegene Ort Vila Real de Santo Antonio richtete im Dezember vergangenen Jahres als erster Ort eine entsprechende Hilfsstelle ein. »Die Agencia Municipal de Combate a Crise wurde sogar von Hilfesuchenden aus ganz Portugal kontaktiert«, berichtet Bürgermeister Luis Gomes. Mittlerweile hat fast jeder Bezirk der Algarve einen solchen Anlaufpunkt für sozial Benachteiligte eingerichtet. Die meisten Rathäuser bieten Zuzahlungen zu Lebensmitteln, Mieten, Medikamenten, Arztkosten und Kindergärten. Sehr oft wird Nachlaß für Wasserkosten, öffentliche Transportmittel und städtische Gebühren gewährt. Die Kleinstadt Silves gibt Lebensmittelkarten für Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse aus. Andere Städte und Gemeinden folgten diesem Beispiel.

Armut und Geldwäsche

»Alisuper« heißt eine Handelskette, die über ein dichtes Filialnetz aus Lebensmittelläden verfügt. Ihre Regale widerspiegeln auch in Lagos den Zustand der Gesellschaft. Ab Mitte jedes Monats beginnen die Absatzschwierigkeiten, und Alisuper hat sich darauf eingestellt: Die Tiefkühltruhen werden nur noch zur Hälfte aufgefüllt. Viele Konsumenten können sich frische Milchprodukte, Fleisch, Wurst und Schinken in den letzten beiden Wochen des Monats nicht mehr leisten.

Eine junge Mutter mit zweijährigem Töchterlein auf dem Arm hat ein altes Brot am Laufband abgelegt. Dann geht sie zurück in die Gemüseabteilung, und kehrt mit einer Zwiebel zurück. Ihr Kind streckt vergeblich Arme und Finger nach einer Viererpackung Fruchtjoghurt aus, die ein englischer Tourist am Kassenband abgestellt hat. »Das gehört dem Herrn, das können wir uns nicht leisten«, versucht die junge Frau, ihren Sprößling abzulenken. Sie zahlt mit Ein-, Zwei- oder Fünf-Cent-Münzen. Keine größere Münze dabei, und der Monat ist erst 18 Tage alt. Alltag bedeutet für viele Portugiesen inzwischen: Kampf ums Überleben.

Auf der anderen Seite präsentiert sich in Lagos eine Art »staatlich geförderte Geldwäsche« in Form ungezügelter Bauwut. Schon jetzt stehen ungezählte Immobilien leer. Eine betonstählerne, halbfertige, vor 30 Jahren errichtete Hotelruine befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem im Bau befindlichen Luxus-, Wellness- und Appartementresort. Über hundert Villen in bester Lage reihen sich auf einer Landzunge vor Lagos, gelegen an wunderschönen Buchten und Steilküsten. In den vergangenen zwei Jahren wechselte der Besitzer der Luxuswohnanlage dreimal - und das in der Errichtungsphase.

In ihrer ersten Anlagewerbung verkündete die United Bank of Switzerland (UBS) noch stolz, daß ein »Schweizer Dreieck in einem Landschaftsparadies« entstehen soll. Dann geriet die UBS offensichtlich in den Strudel des Immobi­lien-Spekulationsskandals und dessen globaler Folgen. Beinahe wäre ihr die Luft ausgegangen, doch flossen im letzten Moment Steuergelder zur UBS-Rettung. Ihr Lagos-Projekt gab sie trotzdem ab. Nun fungiert ein marodes und ebenfalls »gerettetes« portugiesisches Bankenkonsortium als Bauträger.

Noch immer wird in der 20 000 Einwohner zählenden Stadt Woche für Woche eine Großbaustelle eröffnet. Das Spiel ist einfach. Anlageberater knöpfen ohne Risiko privaten Spekulanten, Pen­sionskassen und öffentlichen Einrichtungen hohe Summen ab. Massenweise wird auf Farbprospekten und in Zeitungen für weitere Bauten geworben. Politiker dürfen Sonntagsreden halten. Planungs- und Errichtungsfirmen schreiben horrende Rechnungen für Baumaterial und Arbeitsleistungen - ob sie in dem Ausmaß ausgeführt wurden, bleibt mehr als zweifelhaft. Das dadurch angehäufte Geld landet auf privaten Konten. Übrig bleiben Schulden und Außenstände, die dann per »Rettungsplan« von den Regierungen abgedeckt werden.

Tagelöhner

Hartes, bares, richtiges Geld versickert für Provisionen, für Werbung, für Planungs- und Baufirmen. Zuhauf entstehen schwer verkäufliche, in schlechter Qualität konstruierte millionenteure Villen. Appartements mit 80 bis 100 Quadratmetern sind nur ab 200000 Euro zu haben. Doch es ist schon lange nicht mehr möglich, sie unter den Reichen abzusetzen. Der Rest ist bekannt. Barack Obama, Angela Merkel, Gordon Brown, Nicolas Sarkozy, Silvio Berlusconi und Co. statten die Banken wieder mit echtem Zaster aus. Und das Monopolyspiel beginnt von neuem.

Billigstlohnarbeiter schuften zwölf und mehr Stunden täglich für zwischen 40 und bis 65 Euro am Tag - und das sechsmal die Woche und häufig schwarz, was bedeutet: ohne Renten- und Krankenversicherung. Unfallversicherung? Ebenfalls Fehlanzeige, was auf Baustellen schnell böse Folgen haben kann. Ukrainer, Polen, Angolaner, Moçambiquaner und wenige Portugiesen schuften auf Arbeitsplätzen mit grausigen Sicherheits- und Arbeitsstandards. Einheimische Bauarbeiter befinden sich zu Zehntausenden in Europa auf Wanderschaft: Als Tagelöhner in Berlin, London und Paris fungieren sie zwar als Lohndrücker, erhalten aber immer noch wesentlich mehr Lohn als im eigenen Land. Von etwa zehn Millionen Einwohnern leben über eine Million im Ausland und verdienen dort ihr Geld.

Offensichtlich hat sich wenig getan seit den Zeiten der faschistischen Diktatur, unter der Portugal und seine Kolonien bis zur »Nelkenrevolution« am 25. April 1974 litten. Schon in den sechziger Jahren verdingten sich ungezählte Portugiesen als »Gastarbeiter« in der BRD und anderen westeuropäischen Staaten. Und schon damals galten sie als Menschen zweiter Klasse. Viele kehrten voller Hoffnung nach dem »portugiesischen April« in ihre Heimat zurück und wurden doch schnell enttäuscht. Der Kapitalismus reorganisierte sich innerhalb kurzer Zeit unter Anleitung der internationalen Sozialdemokratie, und das Land blieb weiter Europas Armenhaus.

Wenn Papiere fehlen

In einem Anflug von Galgenhumor erzählt der Ukrainer Oleg in der Mittagspause, die er in einer kleinen Kneipe verbringt, seine Misere: »Was soll ich tun? In Kiew - oder sonstwo daheim - bekomme ich keine Arbeit. Und wenn ich hier sieben Tage die Woche arbeite, bin ich zu müde und habe keine Zeit, um mein schwer verdientes Geld auszugeben.« Er schildert, daß seine Frau Ludmilla weit über 40 Stunden die Woche im Zimmerservice eines größeren Hotels beschäftigt ist und dafür zwischen 520 und 580 Euro im Monat verdient - für portugiesische Verhältnisse ein gutes Einkommen.

Olegs Kollege Serge Zaderi hat ganz andere Sorgen. »Für Miete, Strom und Wasser reichen 500 Euro nicht aus. Meine Lebenspartnerin kann nur mit Gelegenheitsjobs in den Küchen der örtlichen Gastronomie etwas Geld dazuverdienen. Bei uns ist immer Ebbe in der Kasse«, schildert der Eisenbieger, ein Mittvierziger, die nicht erbaulichen Lebensumstände seiner Familie. Seit September geht der Sohn in die Schule. Das kostet zusätzlich.

Vor einem Jahr wurde ein großangelegtes Gerichtsverfahren im Centro Cultural von Lagos durchgeführt. Polizisten in voller, martialischer Ausrüstung sicherten das Gebäude, sperrten Straßen vor dem Kulturzentrum, errichteten Umleitungen. Medien berichteten in üblicher reißerischer Manier von Schlepperbanden und Menschenhändlern, doch waren die 54 Angeklagten, Migranten aus aller Herren Länder, nur kleine Fische. Offensichtlich diente der als großes Schauspiel inszenierte Prozeß gegen die Männer dazu, der Öffentlichkeit weiszumachen, daß der Staat doch etwas gegen illegale Immigration und Schwarzarbeit unternimmt. An den Zuständen auf den Baustellen ändert sich indes nichts. Auch nicht an Schlepperpraktiken. Und erst recht nichts an den Gründen dafür, daß Menschen aus Moçambique oder Angola oder Guinea-Bissau ihre Länder verlassen: Was die Massenarmut ebendort betrifft, wäscht die ehemalige Kolonialmacht ihre Hände in Unschuld.

Ein englischer Barbesitzer hat sein Strandcafé mitten in der Saison dichtgemacht. Der erhoffte Gewinn war ausgeblieben. Mehr als ein Dutzend schlecht verdienende einheimische Beschäftigte landeten von einem Tag auf den anderen auf dem Arbeitsamt - und mußten warten und wurden vertröstet und drangsaliert. Die Kellnerin Vera Costa benötigte fast drei Monate, um die nötigen Unterlagen zu beschaffen: Mal reichte eine Bescheinigung nicht aus, mal stimmte etwas mit der Sozialversicherung nicht.

Das übergeordnete Arbeitsamt im 80 Kilometer entfernten Faro wurde eingeschaltet, und die Prozedur begann von vorn. »Ich stand Tag für Tag in der Schlange. Irgendwann war meine Nummer dran. Dann fehlten wieder Papiere, die nur der Rechtsanwalt der Exfirma ausstellen konnte. Der hat mich hingehalten und mehrfach zu sich bestellt. Und dann paßten die Dokumente dem Amt wieder nicht«, schildert sie ihren mühsamen Kampf. Zum Glück half ihr die Mutter, die meistens ihre zweijährige Tochter versorgt und betreut. Ihr Mann war in dieser Zeit auch arbeitslos.

Nun dürfen sie zusammen mit etwa neun Millionen Portugiesen am Sonntag ein neues Parlament wählen - und nicht nur Vera Costa ist mit einem skurrilen Kampf um Stimmen konfrontiert. Im Vorfeld des 27. September lobt sich die portugiesische Politikerkaste selbst. Allen voran Ministerpräsident Jose Socrates von der Sozialistischen Partei (PS), der mit gegenwärtig offiziell 9,2 Prozent Arbeitslosigkeit für sich wirbt - diese Rate lasse sich im EU-Raum durchaus sehen, argumentiert der Mann.

Hoffnung für Linke

Im Februar 2005, am Abend seiner Wahl und der konservativen Niederlage, hatte der PS-Vorsitzende salbungsvoll verkündet: »Portugal hat eine neue parlamentarische Mehrheit und eine neue Hoffnung.« Damals erhielten die Sozialisten 45 Prozent der Stimmen und stellen seitdem 121 der 230 Sitze im Parlament. Die rechte, sich »sozialdemokratisch« nennende PSD fiel von 40,2 auf 28,7 Prozent und erreichte 75 Mandate. Kommunistische Partei (PCP) und Ökologische Grüne (PEV), die in einem Wahlbündnis namens CDU (Vereinigte Demokratische Koalition) kandidierten, erhielten 7,5 Prozent und 14 Sitze, und der Linksblock (BE) erreichte acht Mandate, was 6,3 Prozent Stimmenanteil entsprach.

»In meinem Familienkreis hat sich ein Teil für die Wahl des BE ausgesprochen. Portugal braucht eine richtige gestärkte Opposition,« schildert der Kneipenwirt Andreas Jäger seinen Eindruck. Der Deutsche aus Bremen lebt nun schon 20 Jahre in Lagos. Tatsächlich scheinen die Zeichen für die Linke nicht schlecht zu stehen. Francisco Louçã beispielsweise, der Chef des BE, feierte nach den EU-Wahlen im Juli 10,7 Prozent, Kommunisten und Grüne von der CDU erreichten einen Anteil von 10,6.

Verblühte Nelken

Im Lagoser Café Havaneza bleiben zwei alte Herren trotzdem skeptisch. »Regierungen kommen und gehen, aber für das Volk ist die Lage immer beschissen. Nach der Nelkenrevolution hatten wir noch Hoffnung, daß jetzt alles besser wird.« Damals standen die PCP mit ihrem charismatischen Vorsitzenden Alvaro Cunhal und auch Teile der Armee für einen sozialistischen Weg und einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Die Aufteilung der großen Latifundien an Landarbeiter und Kleinbauern wurde in Angriff genommen. Doch letztlich scheiterten sie an der Macht der Reichen. Die Meinung eines der Männer dazu: »Heute ist alles wieder so wie einst. Die großen Farmen werden noch größer. Nur erledigen jetzt Riesenmaschinen die mühsame Tätigkeit der Landarbeiter.«

Der zweite Rentner setzt noch eins drauf. »Die europäischen Sozialdemokraten haben ihre Freunde bei uns mit allen Mitteln und viel Geld unterstützt, damit unser Land nicht rot wird. Nach dem EU-Beitritt von 1986 haben die Europäer Unsummen nach Portugal transferiert und sich unsere Gunst mit Autobahnen, Brücken und Renommierprojekten erkauft.«

Erinnerungen an die Vergangenheit hegen auch die Kommunisten und die CDU. Sie plakatieren landauf, landab, haben manche Hochburg - vor allem im nördlich der Algarve-Provinz gelegenen Alentejo. Dort erhielten sie in einigen Städten über 20 Prozent der Stimmen. Nun werben sie mit einem »Neuen 25. April«. Gesellschaftliche Veränderung sei dringender denn je sei, propagiert die Partei der »Nelkenrevolution« von 1974.

* Aus: junge Welt, 26. September 2009


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