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Sozialstaat ist cool

In Polen erlebt die Idee der öffentlichen Daseinsvorsorge ein Comeback – zumindest rhetorisch. Auslöser ist der desolate Zustand von Gesundheits- und Bildungswesen

Von Reinhard Lauterbach *

Ausgerechnet die liberale polnische Zeitung Gazeta Wyborcza machte diese Woche mit der Schlagzeile auf: »Krankenschwestern werden knapp.« Die Tatsache dahinter: Das Pflegepersonal in polnischen Kliniken ist dramatisch überaltert – das Durchschnittsalter der Krankenschwestern liegt bei 47 Jahren. Auf je 1000 Einwohner kämen, so die Zeitung, nur fünf Pflegekräfte (in Deutschland: ca. acht). Wenn diese in ein paar Jahren in Rente gingen, würde es eng werden in Polens Krankenhäusern. Die Zeitung zitierte eine Schwester mit der Aussage, sie sei bei ihren Nachtdiensten entgegen den Vorschriften regelmäßig allein auf Station – mit 24 zu versorgenden Patienten. Denn Nachwuchs ist in den Pflegeberufen knapp. Kaum noch jemand macht eine Ausbildung für einen Beruf, in dem man in Polen umgerechnet meist nur 500 bis 800 Euro im Monat verdient. Und die Absolventinnen und Absolventen der Krankenpflegeschulen nutzen gern die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU und gehen mit ihren frischen Diplomen nach Deutschland, Skandinavien oder Großbritannien, wo sie bei besseren Arbeitsbedingungen deutlich mehr verdienen.

Der Grund dieses Mangels an Pflegekräften ist kein Geheimnis: Noch jede Regierung in Polen seit 1990 hat an Gesundheitsreformen gebastelt. Alle hatten – bei Unterschieden im Detail – ein strategisches Ziel: Die öffentlichen Aufwendungen für die Gesundheit der Bevölkerung zu reduzieren. Mal wurden die Krankenkassen regionalisiert, was zu Patiententourismus dorthin führte, wo die Limits für bestimmte Operationen noch nicht ausgeschöpft waren. Mal faßte man sie wieder zum Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) zusammen. Verbindliche Stellenverteilungsschlüssel wurden aufgegeben zugunsten finanzieller Selbständigkeit der Krankenhäuser. Die müssen gegenüber dem Gesundheitsfonds nur nachweisen, wie viele Ärzte sie beschäftigen, so daß sie bevorzugt an den Pflegekräften und an der Verpflegung der Patienten, die keinesfalls gesund und oft schlechterdings ungenießbar ist, sparen. Gleichzeitig bekommen Mediziner eine Lizenz zum Geldverdienen außerhalb des staatlichen Gesundheitswesens. Die hausärztliche Versorgung ist inzwischen durchprivatisiert. So hatte kürzlich eine an einem Krankenhaus beschäftigte Chefärztin mit Erfolg dagegen geklagt, daß ihr Arbeitsvertrag ihr nicht erlaubte, nebenher noch eine – einträglichere – Privatpraxis zu betreiben. Die Folgen sind absehbar: Gezerre um Überweisungen, monatelange Wartezeiten für Untersuchungen oder Operationen auf Kosten der Kasse und Durchwinken für die, die in der Lage sind, ein paar hundert oder tausend Zloty für dieselbe Leistung »privat« auf den Tisch zu legen.

Das sorgt für verständlichen Unmut in der Bevölkerung. Gerade erst haben Eltern behinderter Kinder für mehrere Tage im Treppenhaus des polnischen Parlaments kampiert, um auf ihre spezifischen Probleme und die völlig unzureichenden Reha-Leistungen aufmerksam zu machen. Es ist auch nicht erstaunlich, daß die Oppositionsparteien das Thema aufgreifen. So bekam der frühere Gesundheitsminister Marek Balicki von der sozialdemokratischen SLD in der konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita eine ganze Seite, um eine Rückkehr zum Gedanken der öffentlichen Daseinsvorsorge weit über das Gesundheitswesen hinaus zu fordern. Auch Bildung müsse wieder ein öffentliches Gut werden, mahnte Balicki angesichts eines Booms privater Kindergärten, Schulen und Hochschulen, deren Abschlüsse oft von fragwürdiger Qualität sind. Auch Jaroslaw Kaczynski, Chef der rechtskonservativen Partei PiS, sprang auf den Zug auf. Er hat angekündigt, im Falle seines Wahlsiegs 2015 würden nur noch diejenigen Krankenhäuser Verträge mit dem Nationalen Gesundheitsfonds bekommen, die auf gemeinnütziger Grundlage arbeiteten. Es sei nicht Aufgabe der Beitragszahler, Profite privater Investoren zu finanzieren. Was daraus in der Praxis wird, ist eine andere Frage. Außer ein paar Schauprozessen gegen mutmaßlich korrupte Chefärzte hat die PiS in ihrer Regierungszeit 2005 bis 2007 nichts gegen die Privatisierung im polnischen Gesundheitswesen unternommen. Trotzdem hat die Lobby des privaten Gesundheitsgewerbes auf Kaczynskis Forderung mit Aufheulen reagiert: Er habe keine Ahnung, wie das Gesundheitswesen funktioniere, und er wolle Zehntausende privat wirtschaftender Hausärzte in den Ruin treiben, lauteten die Vorwürfe. Das stimmt freilich im mehrfachen Sinne nicht: Erstens funktioniert das öffentliche Gesundheitswesen eher schlecht als recht; zweitens hat Kaczynski nicht von den Hausärzten geredet, und drittens sind diese geradezu typische Scheinselbständige. Sie sind vom Gesundheitsfonds abhängig, der ihnen neben – in der Summe gedeckelten – Leistungsentgelten eine Monatspauschale von umgerechnet zwei Euro pro bei ihnen gemeldetem Patienten zahlt. Davon müssen sie allerdings die gesamten Fixkosten ihrer Praxis begleichen. So liegt das Durchschnittseinkommen eines Hausarztes in Polen bei umgerechnet ca. 1000 Euro, und viele Mediziner sind durchaus nicht glücklich mit ihrem Status als Freiberufler. Der führt dazu, daß sie, anstatt die Patienten zu versorgen, einen erheblichen Teil ihrer Arbeitszeit auf Steuererklärungen und jährliche Vertragsverhandlungen mit dem NFZ verwenden müssen. Oder eben auf Nebenverdienste.

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. März 2013


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