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Säbelrasseln und Sorge

In Polen mischen sich militante Rhetorik und Skepsis

Von Reinhard Lauterbach *

Von den Deutschen sagte Bismarck einmal, sie fürchteten Gott und sonst niemanden auf der Welt. Bei den Polen ist trotz aller demonstrativen Religiosität an die Stelle Gottes Wladimir Putin getreten. Nach einer aktuellen Untersuchung erklärten 84 Prozent der Befragten, sie hielten Rußland für eine Bedrohung ihres Landes. Danach kommt sehr lange nichts, bis vier Prozent den islamischen Terrorismus und ein Prozent die politische Dominanz Deutschlands als Gefahren für Polen nannten.

In dieser Stimmung ist der NATO-Gipfel einerseits positiv aufgenommen worden. Endlich besinne sich das Bündnis auf seine eigentliche Aufgabe, die Verteidigung seiner Mitgliedsstaaten, hieß es in Pressekommentaren. Polens politische Führung erhofft sich von dieser Rückkehr der NATO an ihre »Wurzeln«, die Eindämmung Rußlands an seiner Westflanke, eine relative Aufwertung der eigenen Position. Im Irak oder in Afghanistan waren polnische Soldaten zwar gern gesehene Bündnispartner der USA, aber es war für die Zwecke dieser Kriege im Grunde egal, ob die Hilfstruppen aus Ost­europa oder Australien kamen. Das ist anders, wenn der strategische Konflikt zwischen den USA und Rußland auch geographisch wieder in Europa ausgetragen wird. Mit dieser Entscheidung gewinnt Polen automatisch strategisches Gewicht, und der Warschauer Politik ist diese Konsequenz sehr bewußt. Deshalb trat Polen im Vorfeld lautstark für die Verlegung zusätzlicher NATO-Truppen ins eigene Land und ins Baltikum ein und gab sich nur ungern mit der Kompromißformel zufrieden, die Präsenz ständig rotierender und übender NATO-Einheiten zu erhöhen. Als der scheidende Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Pläne für die Bildung einer innerhalb von 48 Stunden einsatzbereiten Eingreiftruppe zum Kampf gegen eventuelle »grüne Männchen« in Osteuropa bekanntgab, maulte das offizielle Warschau, diese Speerspitze sei wohl nur ein Nädelchen. Dahinter steckt in letzter Instanz eine Strategie, die den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg des antisowjetischen Frontstaates BRD im Rahmen einer Art »Kalter Krieg 2.0« kopieren möchte.

Auf der anderen Seite sind selbst die Garantien der NATO für Polens ehrgeizige Ostpolitiker zu schwach. »Deutschland wird uns nicht verteidigen«, titelte vor einigen Tagen die größte Tageszeitung des Landes, die Gazeta Wyborcza. Sie brachte als Beleg einen zweiseitigen Artikel, der die Bundeswehr als eine kampfunfähige Gedönstruppe mit Kasernen-Kitas und Teilzeitsoldaten darstellte. Polens Presse verzeichnet mit Ingrimm, daß Deutschland, Frankreich und Italien an einer konsequenten Konfrontation mit Rußland aus wirtschaftlichen Gründen nicht interessiert sind. Und sie weiß, daß Warschau ihnen dies nicht ausreden wird. Deshalb fordert seit Monaten eine Phalanx von Politikberatern und Professoren, Polen müsse seine Verteidigung stärker selbst in die Hand nehmen – bis hin zum Bau eigener Atomwaffen. Ausgerechnet pensionierte Militärs mahnten in diesem Zusammenhang zuletzt zu Augenmaß. Ein ehemaliger Generalstabsoffizier schreibt in der konservativen Rzeczpospolita, wenn die Salonkrieger aus Politik und Presse Lust auf Pulverdampf hätten, sollten sie in die Ukraine gehen. Faktisch sei die Armee auf einen Krieg nicht vorbereitet.

Es gibt in Polen ein Vorbild für eine von den militärischen Realitäten nicht gedeckte Rhetorik des Stolzes: die Parlamentsrede des polnischen Außenministers Józef Beck vom April 1939 mit dem Kernsatz, Frieden sei gut und schön, aber es gebe auch noch die Ehre. Der frühere Chef der polnischen Landstreitkräfte, General Waldemar Skrzypczak, hat vor einigen Tagen eingeschätzt, die polnische Armee könne einem eventuellen russischen Angriff maximal eine Woche standhalten.

* Aus: junge Welt, Samstag 6. September 2014


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