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Polens "Energiewende"

Warschau setzt trotz aller Umweltbedenken auf Atomstrom und Schiefergas. Hauptsache, der Rohstoff kommt nicht aus Rußland

Von Reinhard Lauterbach *

Die polnische Regierung hat am Dienstag offiziell den Zeitplan für die Errichtung von zwei Atomkraftwerken beschlossen. Die Standorte für die beiden Meiler sollen bis 2016 endgültig festgelegt werden; im Gespräch sind die Ortschaften Choczewo und Zarnowiec im Norden des Landes. Sie liegen wenige Dutzend Kilometer nordwestlich des Ballungsraums Gdansk/Sopot/Gdynia. Ein dritter Standort im Osteebadeort Mielno weiter westlich ist offenbar nicht mehr im Gespräch. Dort hatten sich Ende 2012 bei einem örtlichen Bürgerentscheid weit über 90 Prozent der Teilnehmer gegen das Projekt ausgesprochen.

In Zarnowiec gammelt seit 24 Jahren die Bauruine eines Atomkraftwerks sowjetischen Typs vor sich hin. Der 1982 begonnene Bau war 1990 eingestellt worden, weil das Geld ausging und die örtliche Bevölkerung die Bauarbeiten nach der Katastrophe von Tschernobyl immer wieder durch Straßenblockaden behindert hatte. Bei einem Referendum über das Projekt in der damaligen Wojewodschaft Gdansk sprachen sich 1990 87 Prozent der Teilnehmer gegen den Bau aus. Obwohl die Beteiligung zu gering war, um das Referendum verbindlich zu machen, entschied die Regierung seinerzeit, das Projekt zu stoppen. Inzwischen hat sich zumindest in der politischen Klasse die Stimmung gedreht. Ein Antrag, den Bau wieder aufzunehmen – mit westlichen Reaktoren –, wurde 2011 im polnischen Parlament fast ohne Gegenstimmen verabschiedet.

Nach dem Plan der polnischen Regierung soll der Bau des ersten Reaktors 2019 beginnen und 2024 abgeschlossen sein. Nach Fertigstellung auch des zweiten Atomkraftwerks – geplant für das Jahr 2035 – sollen beide Meiler insgesamt 6000 MW Strom liefern.

Die Baukosten für den ersten Reaktor werden auf umgerechnet zwölf Milliarden Euro geschätzt. Verantwortlich für den Bau ist der staatliche Energiekonzern PGE; da die Kosten seine Möglichkeiten übersteigen, hat die Regierung ein Konsortium aus dem ebenfalls staatlichen und hochprofitablen Kupferkombinat KGHM sowie zwei regionalen Strommonopolisten gezimmert, das gemeinsam die Finanzierung stemmen soll.

Als Grund für den Richtungswechsel der polnischen Energiepolitik werden offiziell die Klimaziele der EU angegeben. Polens Strom kommt zur Zeit zu 85 Prozent aus Kohle- und Braunkohlekraftwerken mit entsprechend hohem CO2-Ausstoß. Ein Programm zur Förderung erneuerbarer Energien besteht zwar offiziell, und es zeigen sich auch immer mehr Windräder auf polnischen Äckern. Die Umstellung auf Erneuerbare wird aber dadurch gebremst, daß die Fördermittel hinter dem Bedarf hinterherhinken. So gab es einige Monate lang 45 Prozent öffentlichen Zuschuß für die Installation von Solarwärmepaneelen auf Privathäusern; wegen lebhafter Nachfrage mußte das Programm in diesem Winter nach der Hälfte seiner Laufzeit unterbrochen werden. Umstellungswillige Investoren werden auf die Zukunft vertröstet. Angesichts der gewaltigen Summen, die für den Bau der geplanten Atomkraftwerke ohne weiteres in die Hand genommen werden, ist Geldknappheit bei der Energiewende aber ein vorgeschobenes Problem.

Denn in Wahrheit schwebt der polnischen Regierung eine ganz andere Energiewende vor. Hauptziel ihrer Energiepolitik ist es, sich von Rußland unabhängig zu machen, das rund 90 Prozent des in Polen verbrauchten Öls und 80 Prozent des Gases liefert. Politisch befindet sich Polen gegenüber Rußland nämlich auf Konfrontationskurs, egal, wie lautstark diese Konfrontation im Einzelfall ausgetragen wird. Das Dilemma zwischen geopolitischer Gegnerschaft und energiepolitischer Abhängigkeit ist schon länger bewußt, wurde aber in Warschau als wenig akut angesehen, solange der Großteil des russischen Gasexports über das Pipelinesystem »Drushba« und damit durch Polen verlief. Man glaubte in Warschau, sich antirussische Töne und Handlungen leisten zu können, weil man den Energietransit nach Deutschland und Westeuropa beherrschte.

Mit der Fertigstellung der Ostseepipeline »North Stream« hat sich diese Rahmenlage verändert, und nach einer Phase hysterischer Reaktionen auf dieses Projekt hat sich Polen nun auf die Diversifizierung seiner Energieimporte verlegt. Der Bau eines Flüssiggasterminals in Swinoujscie (Swinemünde) an der Odermündung ist im Gang, die für diesen Sommer geplante Fertigstellung dürfte sich jedoch verzögern. Ergänzend bohren im Norden und Osten Polens seit 2011 amerikanische, kanadische und polnische Firmen nach Schiefergas.

Die Arbeiten verlaufen, wie in diesen Fällen üblich, vor dem Hintergrund einer Mischung von Geheimniskrämerei und PR-Gehirnwäsche. Herzige Fernsehspots zeigen etwa Mütter, die sich um die künftigen Jobs ihrer kleinen Kinder sorgen, und Leute in Chevron-Overalls mit demoartigen Pappschildern des Inhalts »Wir auch«. Zwar haben die ersten Gassucher aus Übersee ihre Konzessionen bereits wegen mangelnder Ausbeute zurückgegeben, aber die polnische Regierung ist offenbar entschlossen, das Frackingprogramm durchzuziehen. Der bei der UNO-Klimakonferenz in Warschau im November noch als öffentlicher Bremser aktive Umweltminister Marcin Korolec wurde wenig später im Rahmen einer Kabinettsumbildung damit beauftragt, die Schiefergasförderung zu beschleunigen. Widerstand aus der Gesellschaft ist einstweilen nicht zu sehen. Das Argument »Rußland« bügelt alle Umweltbedenken nieder.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. Januar 2014


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