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Probieren, bis es klappt

Neue Aufzeichnungen aus der 2010 abgestützten polnischen Präsidentenmaschine bestätigen Druck auf Piloten

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Wenige Tage vor dem fünften Jahrestag des Absturzes der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk am 10. April 2010 sind neue Verschriftlichungen der Aufzeichnungen des Cockpitrecorders bekannt geworden. Die im Auftrag der polnischen Militärstaatsanwaltschaft von einem Sachverständigenteam angefertigten Transkripte sind um etwa 30 Prozent umfangreicher als die drei bereits bekannten. Sie bestätigen im Kern die Thesen, die sowohl die russischen Experten im Jahr 2010 als auch im Jahr danach die polnische Militärstaatsanwaltschaft aufgestellt hatten: dass der Absturz eine Folge von Pilotenfehlern bei extrem schlechtem Wetter – es herrschte dichter Nebel – war, und dass sich offensichtlich Dritte selbst während des Landeanflugs im Cockpit aufhielten. Dass die neuen Transkripte umfangreicher sind als die vorherigen, erklärte die Staatsanwaltschaft mit der schlechten Tonqualität der in Moskau liegenden Originalaufnahmen, die erst digital hätten aufbereitet werden müssen.

Neu ist unter anderem der akustische Beweis, dass jemand von den mitfliegenden VIPs schon zwischen acht und neun Uhr morgens die Stewardess um ein »Bierchen« bat. Die Passagiere gingen offenbar bei offener Cockpittür in der Pilotenkabine ein und aus. Zu hören ist nach Angaben der Autoren der neuen Transkripte die Stimme des damaligen Luftwaffenbefehlshabers, General Andrzej Błasik. Die ihm zugeordnete Stimme drängt: »Probiert es, bis es klappt« und »Nur Mut, du schaffst es«, nachdem der Pilot Arkadiusz Protasiuk gewarnt hatte, es könne bei dem herrschenden Nebel unmöglich sein, in Smolensk zu landen.

Mehrfach sind Stimmen der beiden Piloten und der Stewardess zu hören, die um Ruhe und darum bitten, das Cockpit zu verlassen – ohne Erfolg. Zu hören ist auch die Stimme des Protokollchefs der Präsidialkanzlei, der das Ansteuern eines Ausweichflughafens ablehnt: »Wir müssen es schaffen.« Die Zeit drängte, weil Präsident Lech Kaczyński zu spät auf dem Warschauer Flughafen erschienen war und sich der Abflug deshalb verzögert hatte. Gegen Mittag Ortszeit wollte Kaczyński bei einer Gedenkveranstaltung für die 1940 vom sowjetischen Geheimdienst in Katyn erschossenen polnischen Offiziere auftreten. Beim Absturz der Präsidentenmaschine waren alle 96 Personen an Bord umgekommen.

Dass die neuen Transkripte gerade jetzt an die Medien durchgestochen wurden, dürfte kein Zufall sein, sondern ein Versuch der Regierung, den erwarteten Demonstrationen der Kaczyński-Anhänger am heutigen Freitag prophylaktisch Wind aus den Segeln zu nehmen. Die von Kaczyński-Bruder Jarosław geleitete größte Oppositionspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) warf den Behörden auch prompt vor, ein »russisches Spiel« zu spielen.

Gleichzeitig mehren sich freilich auch auf seiten der PiS Warnungen, im laufenden Präsidentschaftswahlkampf zu stark auf das Thema »Smolensk« zu setzen. Denn die Debatte über den Absturz ist auch nach fünf Jahren noch in hohem Maße polarisierend.

Etwa 30 Prozent der Polen geben bei Befragungen seit Jahren an, dass sie die von der PiS vertretene These, dass es sich bei dem Absturz um einen Anschlag gehandelt habe, für plausibel halten. Das entspricht in groben Zügen dem Stimmenanteil, den die PiS bei Wahlen maximal erreicht. Zuletzt ist dieser Anteil leicht zurückgegangen. Will die Partei von Jarosław Kaczyński die Präsidentschaftswahlen im Mai und die Parlamentswahlen im Herbst gewinnen, muss sie diese »gläserne Decke« durchstoßen und einen Teil jener etwa 50 Prozent der Wähler erreichen, die das Thema Smolensk leid sind oder seine Politisierung geschmacklos finden.

Seit dem Absturz im April 2010 demonstrieren am 10. jedes Monats Anhänger Kaczyńskis mit Fahnen, Kerzen und Fackeln vor dem Präsidentenpalast in Warschau. Im liberalen Teil der polnischen Öffentlichkeit haben sie dafür das Prädikat »Smolensker Sekte« erhalten. Der stellvertretende PiS-Vorsitzende Antoni Macierewicz hat über Jahre versucht, die Anschlagsthese zu erhärten. Er verdächtigt Russland allein oder Wladimir Putin im Verbund mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk, sie hätten Lech Kaczyński wegen seiner antirussischen Politik aus dem Weg räumen wollen. Diese These übergeht freilich, dass Kaczyńskis Umfragewerte wenige Monate vor dem Ablauf seiner Amtszeit schlecht waren, so dass jeder seiner Gegner auch in Ruhe auf seine Abwahl hätte warten können, ohne das Risiko eines Attentats einzugehen.

* Aus: junge Welt, Freitag, 10. April 2015


Trauergemeinde des Tages: Polen

Von Reinhard Lauterbach **

Die alten Römer wussten schon, warum sie forderten, über Tote nichts oder nur Gutes zu sagen. Denn Begräbnisse sind eine der besten Gelegenheiten für nachhaltigen Krach in der Familie.

Die polnische Politik hat die Konsequenzen daraus gezogen und die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes in Smolensk vor fünf Jahren, bei dem auch der damalige Präsident Lech Kaczyński ums Leben kam, gleich aufgespalten. Auf demselben Friedhof erschienen frühmorgens Präsident und Regierungschefin, später dann der persönlich und politisch Hinterbliebene, Oppositionsführer Jarosław Kaczyński.

Auch die Gedenkmessen wurden in verschiedenen Kirchen gelesen. Es half wenig, dass die Gazeta Wyborcza ihre erste Seite in Trauerschwarz kleidete und von »unserer gemeinsamen Tragödie« salbaderte. Vor dem Präsidentenpalast standen seit dem frühen Morgen die Anhänger Kaczyńskis und hielten Plakate in die Kameras: »Wir leben in einem Staat der Lügen und Fälschungen«, stand da zu lesen. Oder, ungeachtet der durch jüngste Veröffentlichungen erneut erhärtete These, dass der Absturz Pilotenfehlern und schlechtem Wetter geschuldet war: »Die Verantwortlichen sind nach wie vor straflos« – als hätte nicht jede irdische Justiz Schwierigkeiten, Toten den Prozess zu machen, zumal der, wie ein anderes Transparent indirekt eingestand, von der Beweisführung her schwierig wäre: »Putin, gib die Beweise Deiner Verbrechen heraus.«

Dem Staatspräsidenten Bronisław Komorowski fiel auf diese Forderungen nichts anderes ein, als im Radio zu sagen, Polen werde keine Divisionen schicken, um das Flugzeugwrack aus Moskau zurückzuholen. Dass es die Spuren russischer Verbrechen seien, setzte er damit voraus, hielt allerdings dagegen, dass sich der Aufwand nicht lohne.

Da hat er zweifellos recht. Mal abgesehen von der Kleinigkeit, dass die letzten polnischen Divisionen, die es bis nach Moskau geschafft haben, vor 403 Jahren unterwegs waren. Pardon, vor 203 Jahren haben sie es noch mal versucht, als Hilfstruppen Napoleons. In der polnischen Nationalhymne singt man bis heute: »Bonaparte hat uns gezeigt, wie man siegt.«
(rl)

** Aus: junge Welt, Freitag, 10. April 2015 (Kommentar)


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