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Verschwörungstheorien blühen

Polen: Vier Jahre nach dem Absturz der Präsidentenmaschine bastelt Jaroslaw Kaczynski weiter an einem Mythos

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Auch an diesem Donnerstag versammelten sie sich wieder vor dem Präsidentenpalast in Warschau: die Anhänger des vor vier Jahren mit dem Regierungsflugzeug im Anflug auf den Flughafen Smolensk in Rußland abgestürzten Präsidenten Lech Kaczynski. Das Ritual ist immer dasselbe und findet seit 2010 am 10. jedes Monats statt: Der Tag beginnt mit einer Messe, danach werden vor einem Holzkreuz, das vor dem schmiedeeisernen Zaun des Palasts steht, Rosenkränze gebetet, Choräle gesungen und patriotische Reden gehalten. Das Ganze wechselt sich ab mit von konservativen Lieder- und Filmemachern gestalteten Kulturbeiträgen. Das geht bis zum Abend so. Gegen 18 Uhr hält dann regelmäßig der überlebende Zwillingsbruder und jetzige Oppositionsführer, Jaroslaw Kaczynski, eine politische Ansprache. Sie rühmt in der Regel die Verdienste des Verstorbenen und klagt die regierende Bürgerplattform von Donald Tusk aller möglichen Vergehen an – von Hochverrat bis hin zur Mitschuld am Absturz in Rußland. Der Abend klingt aus mit einer zweiten Messe in einer nahe liegenden Kirche. Andersdenkende Warschauer haben sich angewöhnt, am Zehnten einen Bogen um die Gegend zu machen.

Es ist erstaunlich, daß unter den im allgemeinen eher politikverdrossenen Polen das Gedenken an Lech Kaczynski und die 95 weiteren Opfer des Absturzes solch ausdauernde Anhänger findet. Zum einen liegt dies daran, daß Jaroslaw Kaczynski sehr geschickt an Rituale des polnischen Volkskatholizismus anknüpft und dabei von einem Teil der Kirchenführung unterstützt wird. Zum anderen liegt der Erfolg des Dauerbrenners im Warschauer Regierungsviertel aber daran, daß Kaczynski persönlich oder sein Getreuer, der Abgeordnete Antoni Macierewicz, aus einem anscheinend unerschöpflichen Fundus an Verschwörungstheorien schöpfen. Da sollte der Nebel, in dem das Flugzeug abstürzte, künstlich gewesen sein; selbsternannte Experten »bewiesen« mit Hilfe von Satellitenfotos, daß die den Absturz verursachende Birke, gegen die die Maschine im extremen Tiefflug gerast war, dort entweder gar nicht gestanden habe oder schon vorher gefällt worden sei. Abwechselnd tauchten Ex- oder Implosionen, Helium-, Vakuum- oder gewöhnliche Bomben auf – präsentiert von polnischstämmigen Professoren US-amerikanischer Provinz­universitäten, die ihre Qualifikation für die Analyse von Flugdaten selbst daraus herleiteten, daß sie bereits als kleine Jungen gern Flugzeugmodelle gebaut hätten oder schon einmal durch dichten Nebel geflogen seien. Als besonders verdächtig gilt zudem, daß sich drei Tage vor dem Absturz Kaczynskis Konkurrent Tusk am selben Ort ohne besondere Vorkommnisse mit Wladimir Putin getroffen hatte. Es gibt sogar Fotos von jener Begegnung, auf denen beide Politiker einen Händedruck und ein geschäftsmäßiges Lächeln tauschen – wenn das kein Beweis ist. Nach jüngsten Umfragen glauben 23 Prozent der Polen, daß in Smolensk kein Unfall, sondern ein Anschlag stattgefunden habe, und die Anhängerzahl dieser Hypothese wächst. Sie liegt nur wenig unter den Werten für die Antwortvarianten »Fehler von Piloten und Fluglotsen« oder »üblicher Saustall«.

Natürlich hat es auch an Verschwörungstheorien der anderen Seite nicht gefehlt, um dem Abgestürzten eine Mitschuld zuzuweisen. Keine dieser steilen Thesen ist bisher durch die Ermittlungen bestätigt worden. Aber daß sich diese seit inzwischen vier Jahren mit offenem Ende hinziehen, hat ihre Blüte sicher begünstigt. Daß Rußland es mit seinen Ermittlungen nicht eilig hat und das Wrack bis zu deren Abschluß in Smolensk zurückhält, trägt zu der Atmosphäre gegenseitigen Mißtrauens bei.

Genau um diese sowie um die Delegitimierung Tusks geht es Kaczynski. Er bezeichnet die Opfer des Absturzes konsequent als »Gefallene« – der entsprechende unausgesprochene Krieg soll wohl mit Rußland toben – und verlangt, sie »gebührend« zu ehren. Aktuell schob die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita eine neue Theorie nach. Das Blatt, das mit einer Ente über angebliche Sprengstoffspuren an Bord der Präsidentenmaschine 2012 böse auf die Nase gefallen war und sich seitdem von der vordersten Front der Verschwörungstheoretiker zurückgezogen hatte, ging auf die Metaebene und kommentierte am Donnerstag, hinter dem polnischen Streit um das Gedenken an Smolensk stehe – natürlich – Wladimir Putin. Dem nutze nämlich der »Graben zwischen den Polen«, den dieser Streit aufgerissen habe. Die logische Schlußfolgerung, daß der russische Agent, der den Graben ständig offenhält, demnach Kaczynski wäre, zog der Kommentator freilich nicht.

* Aus: junge welt, Freitag, 11. April 2014


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