Zweikampf gerät zur Zitterpartie für Donald Tusk
Wird Polen zum Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten?
Von Julian Bartosz, Wroclaw *
Wer wird Polen nach den Sejmwahlen am Sonntag (9. Okt.) regieren? Donald Tusk oder Jaroslaw Kaczynski? Die Frage nach dem Wahlausgang reduziert sich grob auf diese zwei Namen.
Noch vor zwei Monaten stellte sich diese Frage gar nicht. Die Bürgerplattform (PO) des Regierungschefs Donald Tusk schien jeglicher Konkurrenz haushoch überlegen zu sein. Tusk, darin waren sich die Kenner einig, werde der erste Regierungschef Polens nach der »Wende« sein, der sein Amt länger als eine Wahlperiode ausübt. Doch drei Tage vor dem Urnengang war die Lage wieder in der Schwebe. Polen gerät in den Verdacht, ein Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten zu sein.
Das liegt nicht zuletzt an den Meinungsforschungsinstituten, die die Meinung der Öffentlichkeit nicht nur erforschen, sondern sie maßgeblich beeinflussen. Je nach Auftraggeber der Umfrage (Parteien, Zeitungen, Stiftungen) unterscheiden sich deren Ergebnisse allerdings üblicherweise beträchtlich. Doch nie zuvor klafften die Voraussagen so auseinander: Mal wird der PO ein Vorsprung von 15 Prozentpunkten versprochen, mal liegen Kaczynskis PiS und die P0 nur einen einzigen Prozentpunkt auseinander.
Auf etwa 25 bis 30 Prozent wird der Anteil jener Wähler geschätzt, die noch gar nicht entschieden haben, welcher Partei ihre Stimme zufallen wird. Und das ist längst nicht der einzige Unsicherheitsfaktor. Viel wichtiger für den Wahlausgang ist die Frage, wie viele von den etwa 30 Millionen Wahlberechtigten von ihrem - wie es heißt - »demokratischen Recht, die Geschicke des Landes zu gestalten«, Gebrauch machen. Das Institut OBOP sagte zuletzt eine Wahlbeteiligung von 47,5 Prozent voraus. Im »transformierten« Polen ist das seit 22 Jahren die Norm. Nur bei zwei von sechs Sejmwahlen (1993 und 2007) lag die Wahlbeteiligung über 50 Prozent.
Zuletzt, 2007, ging es um die Alternative »Dritte« oder »Vierte« Republik. Zwei Jahre lang hatte eine von der PiS unter Jaroslaw Kaczynski geführte Regierung gewaltet und ein bedrückendes System à la Pi?sudski einzuführen versucht. Dem erteilte das Wahlvolk eine Abfuhr, indem es sich der zwar ebenfalls rechten, aber liberalen PO zuwandte.
In diesem Jahr verläuft die Hauptkampflinie ähnlich: PiS gegen PO. Jaroslaw Kaczynski greift an, Donald Tusk ist in Verteidigungsstellung. Der eine kündigt an, Polen zum Staat einer großen und stolzen Nation zu machen, der andere mahnt: Unter Kaczynski werde Polen die »griechische Fahne« hissen müssen. Wenn die PiS wiederkommt, drohe dem Land eine Katastrophe, die einzige Alternative sei er - Donald Tusk. Angstmache ist das Hauptinstrument der Bürgerlichen.
Überdies prahlt Tusk mit dem Wachstum in seiner vierjährigen Regierungszeit, während andere EU-Staaten in dieser Zeit schwere Rückschläge hinnehmen mussten. Dass die Arbeitslosenquote ungeachtet dessen bei 11,6 Prozent liegt und jeder dritte Universitätsabsolvent unter 27 Jahren ohne bezahlte Beschäftigung ist, lässt aber auch die Unzufriedenheit wachsen.
Und die nutzt Kaczynski aus. Seine PiS baut auf vier Säulen: auf die Gewerkschaft »Solidarnosc«, auf die Kirche, auf die militanten Fußballfanatiker (»Kibole«) und auf die arbeitslose Jugend.
Zwar beansprucht auch die Tusk-Partei den »Solidarnosc-Ethos« für sich, doch die PO repräsentiert die saturierten Gewinner der Transformation, die PiS dagegen die »zurückgebliebenen Verlierer«. Aus der 10-Millionen-Bewegung, die Polen vor 30 Jahren umwälzte, ist eine Gewerkschaft von 650 000 Mitgliedern geworden. Das macht 6,2 Prozent aller Beschäftigten aus, wobei 75 Prozent davon als »selbstständige Subjekte« malochen, der Rest in noch bestehenden staatlichen Firmen. Mit der »Solidarnosc« in Polen steht es so wie mit der »Solidarität« in der EU. Doch für laute Demonstrationen zugunsten Ka-czynskis sind die Hinterbliebenen der »S« noch stark genug.
Lautstark sind auch die »Kibole«, Polens berüchtigte Fußballultras. Vor den Fußball-Europameisterschaften 2012 im eigenen Land will Regierungschef Tusk der Gewalt in den Stadien durch harte »Null-Toleranz-Gesetze« ein Ende setzen. Die radikalen »Kibole« protestieren - und sehen sich von der PiS und deren Presse als »Patrioten« und Wähler umworben.
Eine direkte Debatte mit Tusk im Fernsehen lehnte Kaczynski ab. Wenn auch nicht wörtlich, so wärmte er doch sinngemäß bei zahlreichen Treffen im Lande die 2005 erprobte Kampfparole »Soziales oder liberales Polen?« wieder auf. Wie aus seinem jüngsten Buch »Das Polen unserer Träume« hervorgeht, will er »alles umgraben«. Auf zig Milliarden Zloty werden die Kosten dieser seiner »Träume« beziffert, aber das gilt auch für die Versprechungen fast aller anderen Parteien.
Um die 460 Sejmmandate bemühen sich 7041 Kandidaten, sieben Parteien stehen landesweit auf den Wahlzetteln. Den Prognosen zufolge haben jedoch außer PO und PiS nur der Bund der Demokratischen Linken (SLD), die Bauernpartei PSL und die polnische Version der »Piraten«, die Bewegung Palikots (RP), Chancen auf Sitze im Sejm. Die 100 Mandatsträger des Senats werden in ebenso vielen Einzelwahlkreisen gewählt.
Staatspräsident Bronislaw Komorowski appellierte an das Volk: »Wählen ist Bürgerpflicht.« Dem widersprach Ryszard Bugaj, einst ein Linker von der Union der Arbeit (UP): »Wenn sich die Menschen von keiner Partei repräsentiert wissen, gehen sie eben nicht hin.« Wer die »enormen Fortschritte« nicht genießt, sich ausgestoßen fühlt oder »zurückgeblieben« ist, habe keinen Grund, abermals an die Versprechungen der Satten zu glauben. So erwartet die Demokraten der PO am Sonntag eine Zitterpartie.
* Aus: neues deutschland, 8. Oktober 2011
Jaroslaw Kaczynski braucht Krach
In der Endphase des Wahlkampfes »profilierte« sich der Oppositionsführer als Außenpolitiker **
Im Wahlkampf, insbesondere aber in
seinem jüngsten Buch »Das Polen unserer
Träume«, erregte der PiS-Vorsitzende
Jaroslaw Kaczynski mit Äußerungen
zur Außenpolitik erhebliches
Aufsehen.
»Wir Polen sind ein großes und
ein stolzes Volk und lassen uns von
niemandem einschüchtern.« – PiSChef
Jaroslaw Kaczynski weiß, wie
er zu seinen Landsleuten reden
muss, die laut Umfrage-Institut
CBOS zu 75 Prozent »eine Regierung
mit harter Hand« haben
wollen. Als Regierungschef werde
er als erstes die »weiße Fahne
«, die Donald Tusk gegenüber
dem Westen wie dem Osten gehisst
haben soll, einholen lassen.
Diese im Wahlkampf immer
wieder geäußerte Ankündigung
wirft die Frage auf, inwieweit die
polnische Außenpolitik im Falle
eines Sieges der Partei Recht und
Gerechtigkeit noch berechenbar
wäre. Aus Dokumenten der Warschauer
USA-Botschaft (dank Wikileaks
bekannt) geht hervor, dass
es in den Jahren 2005 bis 2007,
als die Brüder Kaczynski an der
Weichsel regierten und Anna Fotyga
Außenministerin war, durchaus
Probleme mit Warschaus Politik
gab. Und so könnte es wieder
werden.
Gegenüber Russland werde er
hart auftreten, und zwar zwecks
»gründlicher und objektiver« Klärung
der »wirklichen Ursachen«
der Smolensker Flugzeugkatastrophe,
bei der am 10. April 2010
sein Zwillingsbruder Lech, damals
Polens Staatspräsident, und
mehr als 90 weitere Persönlichkeiten
ums Leben gekommen waren.
Alles, was zu diesem Thema
von russischer Seite wie auch
von Untersuchungsbehörden der
Regierung Tusk gesagt wurde,
entspreche nicht seinem Wahrheitsverständnis,
erklärte Jaroslaw
Kaczynski diese Woche im Interview
für die polnische Ausgabe
des Magazins »Newsweek«.
Auch gegenüber Deutschland, das
gemeinsam mit Russland ein
»Kondominium« über Polen einzurichten
trachte, war Kaczynski
stets misstrauisch. In seinem Buch
»Das Polen unserer Träume«
schrieb er jetzt, Bundeskanzlerin
Angela Merkel vertrete »eine Generation
deutscher Politiker, die
eine Großmachtstellung Deutschlands
wieder aufbauen wollen«.
Eine strategische Achse mit Russland
sei Teil davon und Polen könne
dabei nur ein Hindernis sein.
Es solle daher unterworfen werden.
»Wir könnten eines Tages in
einem kleineren Polen aufwachen
«, warnte der PS-Chef.
Überhaupt sei Merkels Kanzlerschaft
das Ergebnis »nicht ganz
sauberer Umstände«. Im erwähnten
Interview zu dieser Äußerung
befragt, antwortete Buchautor
Kaczynski: »Die weiß schon,
was ich meinte.« Auf die Zusatzfrage,
ob sie vielleicht von der
»Stasi« in diese Stellung gehievt
worden sei, entgegnete er: »Lassen
wir das.« Am Donnerstag beauftragte
er eine Berliner Anwaltskanzlei,
gegen »unzulässige
Interpretationen« seiner Worte
über Merkel in deutschen Zeitungen
Klage zu erheben. Wozu
braucht und sucht er diesen
Krach?
Julian Bartosz
** Aus: neues deutschland, 8. Oktober 2011
Palikot, der Politschreck
Ein polnischer »Pirat« zieht in den Sejm ein ***
Als der 46-jährige erfolgreiche Geschäftsmann
mit philosophischer
Ausbildung vor einem Jahr die regierende
Bürgerplattform (PO)
verließ, für die er zweimal in den
Sejm gewählt worden war, räumte
man ihm nicht die geringsten
Chancen in der realen Politik ein.
Doch am Donnerstag dieser Woche
waren die Umfragewerte seiner
»Bewegung zur Unterstützung
Palikots« (Ruch Palikota – RP)
auf mehr als 10 Prozent der Stimmen
gestiegen. Die RP würde
demnach die drittstärkste Fraktion
im Sejm stellen, noch vor dem
Bund der Demokratischen Linken
(SLD), dem die letzte Prognose
der »Gazeta Wyborcza« 9,2
Prozent zubilligte. Die Bauernpartei
PSL, bisher Juniorpartner
der regierenden PO, käme demnach
auf 8,7 Prozent. Für den Senat
kandidiert Palikots Partei
nicht, denn sie fordert die Auflösung
der zweiten Parlamentskammer.
Seit Monaten zieht Palikot unermüdlich
durchs Land und propagiert
seine Forderungen: Trennung
von Staat und Kirche, Erleichterung
des Schwangerschaftsabbruchs,
kassengetragene
In-vitro-Befruchtung, Straffreiheit
für »weiche Drogen«, kostenloses
Internet, reale Chancen
für gebildete junge Leute, rechtliche
Gleichstellung »anders Liebender
«, transparente Steuerregelungen,
Abzug aus Afghanistan
und vieles mehr. Forderungen,
die ihm große Popularität
einbrachten. Palikot gewann sie
vor allem bei jungen Wählern, die
– wie er selbst – die »betonierte,
unbewegliche politische Szene
« in Schwung bringen wollen.
Aber auch etliche bisherige Wähler
des SLD werden ihr Kreuz
diesmal vermutlich bei der RP machen,
die Janusz Palikot als »Beginn
einer modernen Linken« anpreist.
An den verschiedensten
»Events« Palikots, die er noch als
PO-Abgeordneter im Sejm organisierte,
fanden junge Wähler jedenfalls
ihren Spaß. Sein Wiedereinzug
ins Parlament gilt als sicher.
Zwar will er »zur Verfügung
« stehen, falls PO und PSL nur
ein paar Mandate für die Weiterführung
ihrer Koalition fehlen,
doch wahrscheinlich wird er
im Parlament als »Schreck« für alle
anderen Fraktionen fungieren.
Lustiger wird es damit in der polnischen
Politik schon. Ob sich seine
durchaus berechtigten Forderungen
durchsetzten lassen,
steht auf einem anderen Blatt.
J.B.
*** Aus: neues deutschland, 8. Oktober 2011
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