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Neonazis und zerstrittene Linke

Die polnische Gesellschaft nimmt die ultrarechte Gefahr nicht wahr

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

»Braune Welle schwillt an«, mahnt in der neuesten Ausgabe ihres »Braunbuchs« die polnische Organisation »Nigdy wiecej« (Nie mehr). Indes toben in der etablierten Linken die heftigsten Auseinandersetzungen um die Frage, wer die »wahre Linke« und wessen Führungsanspruch berechtigter sei.

Binnen einer Woche wurden folgende »Zwischenfälle« bekannt: Eine Gruppe maskierter Nationalisten attackierte die Hörerschaft einer Lesung von Prof. Magda Sroda im Auditorium maximum der Warschauer Universität, die gerade über das Gebot der Toleranz sprach.

Am selben Tag wurde in Gdynia das Büro der linken EU-Parlamentarierin Joanna Senyszyn rot beschmiert, tags darauf in Kraków das Büro der Abgeordneten Anna Grodzka angegriffen. In Lódz bewarfen örtliche Fußballfans eine als »Jude« aufgemachte Strohpuppe. Und wieder einen Tag später störten Neonazis die Lesung des Chefredakteurs der »Gazeta Wyborcza« Adam Michnik zum Thema »Fallen auf dem Weg zur Demokratie« in der Aula der Hochschule für Sozial- und Technische Wissenschaft in Radom.

»In den vergangenen zwei Jahren notieren wir im ganzen Lande eine rapide Zunahme der Aggression extremer Nationalisten. Um 30 Prozent nahm die Zahl der Fälle von Antisemitismus, Rassismus, Fremdenhass und Gewalt gegen ›Andere‹ zu«, schreibt Marcin Kornak, der Herausgeber des Buches und Vorsitzender der »Nigdy-wiecej«-Gesellschaft. Über 600 Fälle radikal-nationaler Ausfälle wurden in den Jahren 2011 und 2012 dokumentiert. Rafal Pankowski vom »Collegium Civitas« stellte fest, dass die gefährlichen und beschämenden Tendenzen in der polnischen Gesellschaft zu wenig und zu langsam wahrgenommen werden.

»Wir machen mit euch das, was Hitler mit den Juden gemacht hat.« - »Die Linke gehört an den Galgen.« Solche und viele andere ähnliche »Kampfparolen« sind im Gebrüll der polnischen Neonazis zu hören.

Was aber unternimmt die Linke selbst dagegen? Sie schmort in der eigenen Soße.

Diejenigen, die sich den Polen als Linke darstellen wollen, betreiben ein wahrhaft peinliches Spiel. Ausschließlich von der Idee einer Machtteilhabe bewegt, feilschen sie untereinander. Altpräsident Aleksander Kwasniewski stellte am vergangenen Freitag Janusz Palikot (Chef der gleichnamigen Bewegung) und den EU-Abgeordneten Marek Siwiec als Initiatoren einer gemeinsamen Liste für die Europawahlen 2014 vor. Er selbst, sagte Kwasniewski, sei bereit, die Liste »Europa plus« mitzugestalten und zu unterstützen. Auf die Frage, ob ihn seine hoch honorierten Beratertätigkeiten für den polnischen Milliardär Jan Kulczyk oder den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew dabei nicht stören würden, bestritt er »Interessenkonflikte«. Mehrmals appellierte Kwasniewski an »die ganze Linke«, der Liste »Europa plus« beizutreten. Daraus könne sich für die Parlamentswahlen 2015 »eine starke Mitte-Links-Alternative zu den Konservativen« bilden.

Den Bund der Demokratischen Linken (SLD) unter Führung Leszek Millers rief der Expräsident auf, seinen »ambitionierten Egoismus« aufzugeben. Doch da trifft er nicht erst jetzt auf kategorische Ablehnung. Der SLD, laut Miller eine »stolze und starke Partei«, will selbstständig kämpfen. Mit der Palikot-Bewegung, die man wegen ihrer Zustimmung zur Rente mit 67 und wegen der Ablehnung eines Mindestlohngesetzes nur als »geschäftsorientiertes und liberales Sammelsurium« bezeichnen könne, will der SLD nichts zu tun haben. Für Miller ist Kwasniewskis Engagement, das in den Medien als »Comeback in die Politik« bezeichnet wird, eine »beschämende Tatsache«. SLD-Generalsekretär Krzysztof Gawkowski drohte Ryszard Kalisz, einem Befürworter der Liste »Europa plus«, gar mit Parteiausschluss.

Noch vor dem Dreiertreffen hatten die »Jungen Sozialisten« beschlossen, Aleksander Kwasniewski als »Gesicht der Linken« zu streichen: »Wir sind eine Illusion los.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 27. Februar 2013


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