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Polens Internauten protestieren zu Zehntausenden

Größte Demonstrationswelle seit den Hochzeiten der "Solidarnosc"

Von Julian Bartosz, Wroclaw *

Seit einer Woche erlebt Polen die größte Protestwelle seit der »Wende« im Jahre 1989. Den Teilnehmern geht es um die Freiheit im Internet.

Man habe es mit einem Ausbruch von Unmut gegenüber der Regierung zu tun, wie sie in Polen beim Aufkommen der »Solidarnosc« 1980 zu beobachten war, heißt es in den Medien. Mehr als 100 000 junge Menschen protestierten in nahezu allen Großstädten gegen das Vorhaben, ein im EU-Parlament bereits angenommenes »Handelsabkommen« ins polnische Recht aufzunehmen. Es handelt sich um das »Anti-Counterfeiting Trade Agreement« (ACTA), das Urheber geistigen Eigentums gegen Nachahmer schützen soll.

Seit 2007 bereits warben die Lobbyisten der Unterhaltungsindustrie für ein internationales Abkommen, durch das Raubkopien im Internet unterbunden werden sollen. Dieses Vorhaben setzt zwangsläufig eine stärkere Überwachung des Netzes voraus. Kritiker befürchten daher, dass durch ACTA – weitgehend im Geheimen verhandelt – die Tür zu Zensur und Sperren des Internets geöffnet wird. Ungeachtet dessen wurde das Abkommen von einer Mehrheit der EU-Abgeordneten gebilligt – und zwar zur Endzeit der polnischen EU-Präsidentschaft.

Ebenso unauffällig wie in Straßburg versuchte die polnische Regierung, das Abkommen in Polen zu übernehmen. Als dies vor zehn Tagen in die Öffentlichkeit sickerte, reagierten die Internetaktivisten, indem sie die Webseiten von Premierminister Donald Tusk, von Parlament und anderen Institutionen blockierten. Zugleich mahnten sie den Regierungschef, ACTA nicht wie geplant am 26. Januar in Japan unterzeichnen zu lassen. Doch Tusk erteilte seiner Botschafterin in Tokio ungerührt die Weisung, das Abkommen zu unterschreiben. Das Versprechen des Regierungschefs und seines zuständigen Ministers, »alle Bemerkungen interessierter Kreise« vor einer Ratifizierung zu »berücksichtigen «, empfanden die ACTA-Kritiker als Hohn. »Konsultationen « danach? – das sei noch frecher als zu »Kommunezeiten«!

Ombudsfrau Irena Lipowicz schrieb an Tusk, das Abkommen versperre Interessierten den Zugang zur Kultur. Ewa Letowska, 1987 bis 1992 erste polnische Ombudsfrau, später Verfassungsrichterin, bezeichnete ACTA als Sieg der Lobby der Unterhaltungsindustrie. Das Vorgehen der Regierung sei plump und unseriös.

Piotr Cichocki, Vertreter einer Internetgemeinde, beklagte, dass Werke des Geistes wie materielle Ware behandelt werden. Etliche Rechtsexperten betonten, Urheberrechte würden im bereits bestehenden polnischen Recht ausreichend geschützt. Bei Abwägung von »Eigentum und Freiheit des Wortes« müsse das Gebot des Grundgesetzes die Oberhand behalten. Zensur dürfe nicht sein.

Eugeniusz Grzeszcak, Abgeordneter der Bauernpartei PSL, sprach von einem »Krieg zwischen zwei Welten« – zwischen der Geschäftswelt und jenen, die sich informieren wollen. Die Regierungskoalition zeigt sich gespalten. Donald Tusk, dessen Bürgerplattform (PO) in den letzten Umfragen fünf Prozentpunkte verlor, lehnte Rücktrittsgesuche zweier seiner Minister ab und versprach, die »Angelegenheit« zu bereinigen. Jaroslaw Kaczynskis Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sammelt derweil Unterschriften für ein Volksbegehren.

Höchste Empörung unter Sejmabgeordneten rief die Nachricht hervor, dass die USA-Botschaft in der Sejmkanzlei nachgefragt habe, wer von den Mitgliedern eines Parlamentsausschusses den Premier bedrängt habe, die »Sache« aufzugeben. Sie wollte auch wissen, ob es Abstimmungsdisziplin gegeben habe.

Der Protest wird, wie in der »Gazeta Wyborcza« zu lesen war, von etwa 100 jungen Menschen inspiriert, die vorher schon in der weltweiten Piratenbewegung aktiv waren. Die Frage, ob daraus ähnlich wie in Deutschland auch in Polen eine politische Struktur entstehen könnte, steht im Raum.

* Aus: neues deutschland, 31.01.2012


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