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Manila im Tigermodus

Niedrigstlohn und Auslandsüberweisungen: Wirtschaftsaufschwung auf den Philippinen lockt globales Kapital. Soziale Kluft weiter groß

Von Thomas Berger *

Die Philippinen gelten als Südostasiens neuer »Tigerstaat«. Zu dieser Einschätzung kommen verschiedene Beobachter aufgrund der jüngsten ökonomischen Entwicklungen des Landes. Das internationale Kapital blickt mit neugewecktem Interesse auf die frühere spanische und spätere US-amerikanische Kolonie, die als aufstrebendes Schwellenland eingestuft wird. Die großen Ratingagenturen haben das Land zuletzt immer besser beurteilt und sehen für die Volkswirtschaft eine exzellente Zukunft – kurz, aus Sicht der globalen Investoren boomt der Inselstaat. Eine Schlüsselszene für das aktuelle Selbstbewußtsein der philippinischen Wirtschaft war eine Finanzspritze für den Internationalen Währungsfonds (IWF). Eine Milliarde US-Dollar hat Manila für das Rettungspaket überwiesen, mit dem der IWF im Rahmen der sogenannten Troika notleidenden Euro-Staaten wie Griechenland mit Krediten unter die Arme greift. Ein früheres Entwicklungsland Südostasiens beteiligt sich an der »Rettung« des alten Europa.

Nicht zuletzt Devisenreserven im Volumen von umgerechnet 70 Milliarden US-Dollar lassen solche finanzpolitisch spektakulären Manöver derzeit locker zu. Der Inselstaat ist liquide wie selten in den vergangenen Jahrzehnten. Dies, die verhältnismäßig stabile politische Situation und rasante Wachstumsquoten der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) bewogen die US-Ratingriesen Moody’s, Standard & Poor’s sowie die Agentur Fitch, die Bonität des Landes ständig besser zu bewerten. Allein im ersten Quartal war das BIP um 6,4 Prozent angestiegen.

Mit einem derartigen Konjunkturtempo sind die Philippinen derzeit Spitze in der Region, lediglich getoppt von der Wirtschaftsgroßmacht China. Während Thailand und Malaysia schwächeln und selbst Indonesien sich mit weniger BIP-Zuwachs bescheiden muß als erhofft, wird das Land der mehr als 7000 Inseln zu einem Liebling der Investoren – besonders wenn es um Billigjobs geht. So haben die Philippinen dieses Jahr Indien als Nummer eins bei Callcentern abgelöst. Während der Trend des Outsourcings anhält, lassen sich die Unternehmen nunmehr lieber in Manila als in Bangalore nieder. Indien beschäftigt etwa 400000 Menschen in diesen Jobs, in der Inselrepublik sind es schon über 600000, Tendenz weiter steigend.

Aber auch als verlängerte Werkbank der Elektronik- und IT-Industrie macht das Land »Karriere«. Beinahe überrannt wird es von japanischen Investoren. Jede Menge Produzenten wollen sich entweder neu dort niederlassen oder bestehende Tochterfirmen stark erweitern. Dies betrifft unter anderem Canon mit seiner Druckerproduktion, Fujifilm mit der Fertigung von Linsen für Digitalkameras, Murata Manufacturing mit elektronischen Bauteilen, Spielehersteller Bandai oder Furukawa Automotive, die ab kommendem Jahr Elektronik für den Autobau von dort liefern wollen. In einigen Fällen ist mit dem Bau der Anlagen schon begonnen worden, in anderen soll es spätestens 2013 damit losgehen.

Anlaß für solche Neuansiedlungen sind nicht nur die teils verschlechterten Rahmenbedingungen in einigen südostasiatischen Nachbarländern, Japans Krisen im Inland oder Turbulenzen in Indien während der jüngsten Vergangenheit. Viele Konzerne entscheiden sich auch aus demographischen Gründen für die Philippinen: Die Bevölkerung ist so jung wie sonst nirgendwo ringsum, 61 Prozent sind im »arbeitsfähigen Alter«. In der nächsten Zeit soll diese Zahl sogar noch weiter steigen, während in anderen Ländern der Region die Einwohnerschaft statistisch altert.

Neue Produktionsstätten bedeuten zunächst mehr Jobs, selbst wenn sie schlechter als in Indien bezahlt werden. Das kann jedoch eines der großen Probleme des Landes, die Arbeitsmigra¬tion, nicht überdecken. Enorm viele Filipinos schuften in allen Teilen der Welt als Billiglöhner, weil sie zu Hause null Chancen auf einen Erwerbsjob hatten. 9,5 Millionen sind es nach aktuellen Angaben, rund ein Zehntel der Gesamtbevölkerung lebt damit teils schon seit Jahren von den Familien getrennt. So schmerzhaft das für die Betroffenen ist, sind doch viele darauf angewiesen. Genauso wie die philippinische Volkswirtschaft. Umgerechnet 20 Milliarden US-Dollar flossen zuletzt Richtung Manila, »Heimatüberweisungen« der im Ausland tätigen Bürger. (2003 waren es noch 7,5 Milliarden.) Die gesellschaftlichen und psychologischen Verwerfungen, die damit einhergehen, werden meistens bewußt ignoriert. Gestörte Familienverhältnisse passen nicht ins Bild einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht, ebenso wenig wie die Bewohner beispielsweise von Tondo, dem größten Slum der Hauptstadt. Die wissen nichts von Aufschwung. Und immer noch lebt ein großer Teil der Bevölkerung auf dem Lande. Ein Drittel der 92 Millionen Bewohner produziert dort lediglich 15 Prozent des BIP.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 26. September 2012


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