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Ende des Geiseldramas?

Nach 85-tägiger Geiselhaft in den Dschungeln der südphilippinischen Insel Jolo ist am Montag, den 17. Juli, die 56-jährige Renate Wallert aus Göttingen von den Rebellen der muslimischen Extremistengruppe Abu Sayyaf freigelassen worden. Frau Wallert war am Ostersonntag, 23. April, zusammen mit neun weiteren westlichen Touristen, unter ihnen ihr Mann Werner und ihr Sohn Marc, sowie neun Malaysiern und zwei Filipinos durch die Sayyaf-Bande von der ostmalaysischen Taucherinsel Sipadan gewaltsam in die Regenwald-Lager auf Jolo verschleppt worden. Die Strapazen der Geiselhaft im Dschungel setzten Frau Wallert offenbar noch weit stärker zu als den mehrheitlich viel jüngeren anderen Gefangenen. Sie litt an viel zu hohem Blutdruck und an stetigen panischen Angstzuständen. Nach mehreren Anfällen akuter Herzschwäche hatten philippinische Ärzte, welchen die Rebellen mehrmals Zugang zu ihren Lagern gewährten, schon seit längerem zu Wallerts Freilassung aus humanitären Gründen und zu ihrer vorübergehenden Hospitalisierung geraten.

Dass Frau Wallert nun als erste der westlichen Geiseln freigekommen ist - ein erster Malaysier war von den Rebellen vor zwei Wochen, ein zweiter vergangenen Freitag (14. Juli) auf freien Fuß gesetzt worden -, wird von Beobachtern und Unterhändlern denn auch auf ihre angeschlagene Gesundheit zurückgeführt. Robert Aventajado, der Sicherheitsberater des philippinischen Präsidenten Estrada und mittlerweile auf Regierungsseite der Chefunterhändler in der Geiselaffäre, hatte sich offenbar am Sonntagabend bei einem Telefongespräch mit dem auch unter dem Pseudonym «Commander Robot» auftretenden Rebellenführer Ghalib Andang über Frau Wallerts Freilassung einigen können. Danach holte er in Begleitung eines Aufgebots schwer bewaffneter Militärpolizei mit geländegängigen Panzerwagen Frau Wallert höchstpersönlich in einem der Dschungellager der Sayyaf-Rebellen ab.

Schwarze Taschen

Aventajado sagte, Frau Wallerts Freilassung sei «rein und allein eine Geste des guten Willens» der Sayyaf-Gruppe. Auch der Asienbeauftrage der Bundesregierung, Cornelius Sommer, wertete die Freilassung als Zeichen des "guten Willens" der Entführer. Aventajado bestritt auch kategorisch, dass diese mit einer Zahlung von Lösegeld verbunden sei. Dies allerdings glaubt unter den Beobachtern des Geschehens in Jolo, Zamboanga und Manila kaum einer mehr. Haben doch die malaysischen Unterhändler, die in - von Aventajado ebenfalls bestrittenen - Parallelverhandlungen die Befreiung von zweien ihrer Landleute erwirkten, bereits mehrmals offen zugegeben, dass diese Freilassungen jeweils mit dem «Geschenk» von fünfzig Säcken Reis und Geldbeträgen verbunden waren, deren Höhe allerdings weiterhin geheim gehalten wird.

Spekulationen über die Erfüllung von Lösegeldforderungen durch die Bundesregierung wurden in Berlin nicht kommentiert. Außenminister Fischer hatte sich vor zwei Tagen selbst nach Manila begeben, um mit der philippinischen Regierung zu verhandeln. Immer wieder wies er darauf hin, dass eine Lösung des Geiseldramas nur mit friedlichen Mitteln gesucht werden dürfe. Wenn diese Erkenntnis ihn nur auch bei anderen Entscheidungen leiten würde! Dass Geld geflossen ist (man spricht von 1 Mio. DM pro Kopf), dürfte sicher sein. Nach Angaben aus philippinischen Vermittlerkreisen sind zwei Taschen mit umgerechnet 1,98 Mio. DM übergeben worden. Auch wenn die Regierung in Manila diese Darstellung dementiert: Die Frage ist nur, wie dieses Geld deklariert wird - ob als Lösegeld oder als Entwicklungshilfe für bestimmte Projekte.

Ein Ende der Geiselnahme ist ungewiss

Frau Wallert, die zeitweise von Aventajado gestützt werden musste, sagte, sie sei über ihre Freilassung «nicht vollständig glücklich». Während ihr immer wieder Tränen über die Wangen liefen, verwies sie darauf, dass sich ihr Mann und einer ihrer Söhne immer noch in der Hand der Geiselnehmer befinden. Tatsächlich ist ihre Leidensgeschichte noch keineswegs zu Ende. Zwar deuteten die malaysischen Unterhändler am Montag an, dass die restlichen sieben Geiseln aus ihrem Land vermutlich noch im Verlauf dieser Woche freikommen werden. Auch Aventajado gab sich optimistisch und bezeichnete Frau Wallerts Freilassung als «möglichen Wendepunkt» in der Affäre.

Beobachter in Manila waren diesbezüglich jedoch skeptisch und sagten, die Freilassung aller Geiseln - unterdessen halten die Sayyaf-Rebellen neben den ursprünglich entführten Touristen auch noch den «Spiegel»-Korrespondenten Andreas Lorenz, drei Mitglieder eines französischen Fernsehteams sowie dreizehn Mitglieder einer christlichen philippinischen Sekte gefangen - könnte sich unter Umständen noch über Wochen, wenn nicht gar Monate hinziehen. Als Grund dafür sehen sie Bedenken der Rebellen hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit. Die Geiseln stellen für die Entführer eine Art Sicherheitsgarantie dar, wenn sie diese alle freilassen, haben sie nichts mehr in der Hand, was die philippinische Staatsmacht von einem entschlossenen und gewaltsamen Durchgreifen abhalten könnte.

Der Krieg geht weiter

Wie auch immer die Geiselkrise ausgehen mag, auf den südphilippinischen Inseln insgesamt scheint sich die Sicherheitslage zu verschlechtern. Nachdem die Armee vor Wochenfrist das Hauptquartier der Moro Islamic Liberation Front (MILF), der zweiten Rebellenorganisation, auf der Insel Mindanao erobert hatte, kündigten MILF-Führer den Übergang zum Guerillakrieg an und riefen zum «Jihad», zum heiligen Krieg gegen den philippinischen Staat auf. Am Sonntag und am Montag kam es in mehreren Städten Mindanaos zu Bombenattentaten, und in einem abgelegenen Dorf sollen laut philippinischen Radioberichten muslimische Bewaffnete einundzwanzig Christen massakriert haben.

Bei allem Abscheu über die Handlungsweise der Rebellen, die sich eher als Banditen denn als "Befreiungskämpfer" gebärden: Kommentare, die jetzt nur noch das baldige Ende des Geiseldramas herbeisehnen, um danach wieder zur Tagesordnung überzugehen, verkennen die strukturell gewaltsame Grundsituation der Gesellschaft in diesem Landesteil der Philippinen. Die Frankfurter Rundschau z.B. stellt die Geschichte so dar, als müsse das Land, um zum Frieden zu kommen, lediglich von den Terroristen eines Abu Sayyaf befreit werden. Die Geiseln "können jetzt auf ein Happy End hoffen. Die Menschen im Süden der Philippinen, die schon jahrelang unter dem Terror von Abu Sayyaf leiden, haben diese Aussicht nicht." Dass viele Menschen auch unter dem Terror der Regierung, ihrer Armee und Polizei leiden, kommt diesem Kommentator gar nicht in den Sinn. Genau hierin liegt aber das Grundproblem.
Nach: Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Sueddeutsche Zeitung, 18. Juli 2000

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