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Philippinen: Totgesagte leben länger

Abu Sayyaf meldet sich mit Geiselnahme zurück - Hintergründe und aktuelle Nachrichten

Die Geiselnahme vor einem Jahr, als unter anderem auch drei Deutsche in Gefangenschaft gerieten, war ein Medienereignis und zog manche diplomatische Intervention, wahrscheinlich aber noch viel mehr verdeckte Geheimdienstaktivitäten nach sich. Am Ende konnten alle Seiten zufrieden sein: die überlebenden Geiseln, die Banditen von Abu Sayyaf, Präsident Estrada, der offenbar an dem Deal auch etwas verdiente, und der Libysche Präsident Gaddafi, dessen Vermittlungsrolle in der Geiselaffäre ihn gleichzeitig wieder auf die internationale politische Bühne brachte. Vieles von dem, was danach passierte (Bombenangriffe auf südphilippinische Dörfer, in denen die Terroristen vermutet wurden, erneute kleinere Entführungsmaßnahmen, von denen aber keine Europäer betroffen waren) entzog sich wieder dem Blick der sensationsgierigen Medien hier zu Lande. Aufhorchen lässt die erneute Geiselnahme vom Sonntag, dem 27. Mai 2001, weil erstens unter den Geiseln sich auch drei amerikanische Staatsbürger befanden und weil zweitens die neue Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo nun zeigen kann, ob sie mit dem Problem besser umzugehen weiß als ihr abgesetzter und unter Korruptionsverdacht stehender Vorgänger.
Ein Artikel aus der jungen welt analysiert die Begleitumstände und Hintergründe der neuerlichen Geiselnahme. Weiter unten wird über die neueste Entwicklung am Pfingstwochenende berichtet.


Totgesagte leben länger
Abu Sayyaf meldet sich zurück. Erneute Geiselnahme auf den Südphilippinen


In den frühen Morgenstunden des 27. Mai nahm die Abu Sayyaf generalstabsmäßig erneut 20 Geiseln (darunter drei US-amerikanische Staatsbürger), schipperte sie durch die Sulu-See und demonstrierte, daß Totgesagte länger leben. Und das nicht schlecht - mit Lösegeld und Duldung staatlicher Instanzen. Präsidentin Gloria Macapagal-Arroyo kündigte ein drakonisches Vorgehen an. Wenn das mal nicht voreilig war.

Die trübe Abu-Sayyaf-Truppe, zusammengesetzt aus desillusionierten Ex-Kombattanten der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) mit Kampferfahrungen in Afghanistan und protegiert von Regionalpolitikern wie lokalen Geheimdienststellen auf den Inseln Basilan und Jolo, tritt merkwürdigerweise immer dann auf die Bühne, wenn es gilt, die legitimen Autonomieforderungen der muslimischen Bevölkerung im Süden (der Moros) zu desavouieren und von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Das ist heute nicht anders als vor einem Jahr, als die Abu Sayyaf 21 Personen (darunter mehrere westeuropäische Geiseln) auf der ostmalaysischen Insel Sipadan kidnappte und 139 lange Tage gleichermaßen Unterhändler, Militärs und Medienleute foppte.

Manila erklärte damals den Terroristen den »totalen Krieg« und lehnte kategorisch jede Lösegeldzahlung ab. Erst als die letzten westlichen Geiseln dennoch gegen Zahlung von pro Nase mindestens eine Million Mark freigekommen waren, entfesselte das Militär am 16. September 2000 eine Großoffensive gegen die vermeintlichen Stellungen von Abu Sayyaf. Resultat: Nun geriet die Zivilbevölkerung in die Schußlinie und wurde als Geisel genommen. Die Drahtzieher des Kidnapping, Ghalib Andang alias Commander Robot und seine Gefolgsleute, deckten sich derweil mit neuen Schnellbooten und Waffen ein. Die aufreibende Beuteteilung zwischen Abu Sayyaf und dem damaligen Chefunterhändler Manilas, Roberto Aventajado, bescherte beiden Seiten volle Taschen und der Abu Sayyaf neue Anhänger. Den libyschen Krisenmanager Abdul Rajab Azzarouq brachte es ob soviel Politposse auf die Palme. Aventajado nämlich hatte hinter den Kulissen gemeinsame Sache mit einem anderen Dream-Team der Jolo-Unterwelt gemacht: mit Ernest Pacuno, einem Armeeoberst im Ruhestand mit dem Codenamen Dragon (Drache) und Onkel von Robot, sowie Samil Jumaani alias Dragonito (Kleiner Drachen), dessen Frau die Schwester eine der Ehefrauen Robots ist. Dieser Lösegeld-Poker gefährdete das Wohl und die schnellstmögliche Freilassung der Sipadan- Geiseln.

Nicht nur ist die Abu Sayyaf putzmunter wie eh. Sie agiert heute auf gehobenem Niveau und arbeitsteilig in drei Kommandos - als Patikul-, Talipao- und Basilan-Fraktion, benannt nach den Orten ihrer jeweiligen Operationsbasis auf Jolo und Basilan. Ihre Führer, Commander Robot & Co. sowie Khadafy Janjalani (ein Bruder des erschossenen Abu-Sayyaf- Gründers Abdurajak Janjalani), sind wohlauf und verfügen über eine bemerkenswerte Logistik. Unbehelligt erklärte ein Abu-Sayyaf-Sprecher übers Radio, Janjalani habe die drei amerikanischen und sieben philippinischen Geiseln in seiner Obhut, während Commander Robot die restlichen zehn Geiseln »betreue«. Unterstützung fanden und finden sie von einflußreichen lokalen zivilen und militärischen Kräften. Bei den Militärs handelt es sich um einstige Kämpfer der MNLF, die im September 1996 mit Manila Frieden geschlossen hatte und seitdem einen Teil ihrer Kombattanten in die regulären Streitkräfte integrieren mußte. Die Ex-MNLFler verbinden jedoch Freundschaften und verwandtschaftliche Bande mit der Abu Sayyaf und wachsende Ablehnung ihres einstigen Idols Nur Misuari. Als Mitbegründer und Vorsitzender der MNLF hatte sich Misuari 1996 endgültig mit Manila arrangiert, erhielt im Gegenzug politische Posten und Pfründe und steht nach harscher Kritik vor einem Scherbenhaufen. Seit einigen Wochen, so ist aus internen MNLF-Kreisen zu erfahren, sei er faktisch kaltgestellt.

So war es kein Zufall, daß sich Manilas »totaler Krieg« seit Frühjahr 2000 vor allem gegen die zwischenzeitlich erstarkte Moro Islamische Befreiungsfront (MILF) richtete, die nach wie vor für Unabhängigkeit eintritt und Misuari der Kapitulation zeiht. Etwa vier Milliarden Pesos (zirka 200 Millionen Mark) kostete dieser desaströse Waffengang, der nach offiziellen Verlautbarungen in Zentralmindanao und auf Jolo über eine halbe Million und nach Schätzungen kirchlicher und anderer Nichtregierungsorganisationen etwa 800 000 interne Flüchtlinge hinterlassen hat. Und ausgerechnet jene Kräfte in den Streitkräften und der Nationalpolizei, die bis vor kurzem noch als Falken agiert hatten, »drohen« der MILF erneut mit Friedensverhandlungen, die sie im Sommer letzten Jahres einseitig torpediert hatten. Mitte März wurde nach einigen Ränken mit Generalleutnant Diomedio Villanueva ein Mann neuer Generalstabschef, der - ausgebildet an der Philippine Military Academy, in Indonesien und den USA - im Sommer letzten Jahres als Chef des in Zamboanga beheimateten Südkommandos (SouthCom) für die operativen Einsätze der ihm unterstellten 80 000 Mann (inklusive paramilitärischer Verbände) auf Mindanao und Jolo verantwortlich war und sich brüstete, die Infrastruktur der Abu Sayyaf genau zu kennen. Diesen Kräften innerhalb der Regierung geht es letztlich um die Befriedung der MILF im Rahmen neuer Verhandlungen. Die bedeutsamen inner- wie außerparlamentarischen Getreuen des im Januar unzeremoniell geschaßten Präsidenten Estrada wollen indes seine Nachfolgerin als illegitim und durch die jüngsten Kommunal- und Kongreßwahlen geschwächt vorführen. Im Kalkül beider Seiten läßt sich mit der Abu Sayyaf mal wieder innenpolitisch pokern. Erneut zum Leidwesen der Zivilbevölkerung im Süden. Bleibt als Unbekannte die Reaktion der USA. Da nunmehr gleich mehrere ihrer Staatsbürger als Geiseln genommen wurden, soll die Schlagkraft der Counter-Terrorist Force (CTF) getestet werden. Die CTF, eine »Entwicklungshilfe« Washingtons an Manila nach dem Ende des Sipadan- Geiseldramas, ist eine aus zwei Kompanien der philippinischen Streitkräfte bestehende und eigens von US-amerikanischen Counterinsurgency-Experten gedrillte Eliteeinheit, die im Bedarfsfall von Marines unterstützt werden soll. Mittlerweile sind GIs auf den ehemaligen US-Militärbasen im Lande, in der Subic Naval Base und in Clark Air Field, eingetroffen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Rainer Werning

Aus: junge welt, 2. Juni 2001

Aktuelle Nachrichten vom Pfingstwochenende 2001

Die rund 60 Abu Sayyaf-Guerillas haben am Sonntag, den 3. Juni, einen Belagerungsring der Armee durchbrochen und sind in den südphilippinischen Dschungel entkommen. Dabei haben sie Zivilisten als menschliche Schutzschilder benutzt. Ein philippinischer Brigadegeneral erklärte dazu, seine Soldaten hätten sich zurückgehalten, um keine Geiseln zu verletzen. Fünf Verschleppten gelang die Flucht. In der Nähe der Ortschaft Lamitan wurden unterdessen nach Polizeiangaben die Leichen von zwei Entführten gefunden. NZZ-online berichtete, der Polizeichef auf Basilan habe erklärt, eine der beiden gefundenen Leichen sei enthauptet worden (dpa spricht von zwei enthaupteten Leichen). Der Tote arbeitete als Wachmann in der Hotelanlage, in der die Rebellen am vergangenen Sonntag 20 Geiseln genommen hatten. Nach Militärangaben habe es in dem heftigen Schusswechsel bei dem umzingelten Krankenhaus von Lamitan schwere Verluste gegeben. Die Guerillas seien von rund 100 Kämpfern aus dem Dschungel unterstützt worden, die während ihres Ausbruchsversuchs Ablenkungsangriffe auf Militärstellungen durchführten.

Seit Beginn der Kämpfe am Freitag wurden nach Militärangaben 17 Soldaten getötet und 96 verwundet. Auch unter den Extremisten von Abu Sayyaf und Zivilisten gab es Todesopfer. Zahlen wurden aber offiziell nicht genannt. Sprecher der philippinischen Armee erklärten es gebe keine Berichte über Verletzte unter den Geiseln, darunter drei Amerikaner, die jetzt auf der Insel Basilan vermutet werden. Bereits am Samstag waren vier Gefangene entkommen, so dass noch elf der verschleppten Personen in der Gewalt der Abu Sayyaf sind. Allerdings nahmen die Guerillas in dem Krankenhaus neue Geiseln, darunter einen Arzt und dessen Frau. Ein Krankenhaussprecher erklärte, mindestens vier Angestellte würden noch vermisst.

Die Entkommenen berichteten von ihrer schrecklichen Angst in der Geiselhaft. "Wir lebten von einer Explosion zur nächsten", sagte Aurora Samson, eine 60-jährige Lehrerin. "Es war ein Albtraum." Die Bewohner von Lamitan kritisierten, die Soldaten hätten die Rückseite des Krankenhauses nicht bewacht und den Rebellen so die Möglichkeit zur Flucht gegeben. Die philippinische Präsidentin Arroyo wiederholte, die Regierung werde kein Lösegeld für die Geiseln zahlen. "Wir werden ihre bedingungslose Freilassung verhandeln, aber es wir keine Lösegeld geben", erklärte sie.

Quelle: Neue Zürcher Zeitung - online, 04.06.2001; SZ-online, 04.06.2001

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