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Philippinen: Terror nach dem Geiseldrama

Turbulentes Jahr 2000

Wochenlang bewegte das Geiseldrama auf der philippinischen Insel Jolo die deutsche Öffentlichkeit und lieferte den Medien den begehrten Stoff, aus dem sich hohe Auflagen oder Einschaltquoten speisen. Am 24. April (Ostersonntag) waren 21 vornehmlich europäische Touristen, darunter das Göttinger Ehepaar Renate und Werner Wallert mit Sohn Marc, auf der malaysischen Urlauberinsel Sipadan gekidnappt und auf die südphilippinische Insel Jolo verschleppt worden. Die Geiselgangster gehören der berüchtigten Bande Abu Sayyaf an, eine der vielen Desperadogruppen auf der südphilippinischen Insel Mindanao, die sich von der muslimischen Unabhängigkeitsbewegung der MILF-Moro Islamische Befreiungsfront abgespalten haben und mit solchen Geiselnahmen - meist wohlhabende Geschäftsleute - ansehnliche Lösegelder zu erpressen versuchen. Dabei achten die Geiselgangster peinlich darauf, ihren Aktionen einen politischen Anstrich zu geben. Das philippinische Gesetzbuch ahndet "gewöhnliche" Geiselnahmen mit der Todesstrafe, während man bei politisch motivierten Taten nur Haftstrafen zu erwarten hat. Die Abu Sayyaf-Gang setzte dem gemäß alsbald Gerüchte in die Welt, sie verlange für die Freilassung ihrer Geiseln die Zusage von Hilfsprojekten und Entwicklungsgeldern zum Bau von Kaffe-, Orangen- und Mangoplantagen. Eine solche politische Drapierung gewöhnlicher Schwerkriminalität ist natürlich Wasser auf die Propagandamühlen der philippinischen Regierung, die damit jegliche Oppositions- und Autonomiebewegung als "terroristische" oder "kommunistische Subversion" kriminalisiert.

90 Prozent der 70 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung sind Christen. Die Katholiken (80 %) haben aber seit der Revolution 1898 eine von Spanien und Rom unabhängige Kirche gebildet. Fünf Prozent sind islamischen Glaubens. Es sind vor allem die "Moros" ("Mauren"), die im Süden und Südwesten des Inselreichs (Südwest-Mindanao, Sulu-Inseln, wozu auch die Insel Jolo gehört, und Palawan) beheimatet sind und seit jeher mit den Spaniern und bis heute mit der philippinischen Regierung in Konflikt stehen. Der Kampf der MNLF (Moro National Liberation Front) gegen das Regime kostete seit 1972 über 60.000 Menschen das Leben und hat etwa eine Million Binnenflüchtlinge verursacht. Die wichtigste Forderung der Moros ist die nach völliger außen- und innenpolitischer Autonomie für insgesamt 13 Provinzen. Die zersplitterte Lage des Inselreichs und die vielen sprachlichen Unterschiede unter den Muslimen ("Moros" ist ein Sammelbegriff für verschiedene Volks- und Sprachgruppen) begünstigte die Heterogenität der Aufstandsbewegung. Es gibt keine einheitliche Struktur, keine einheitliche Führung und auch kein einheitliches militärisch-taktisches Vorgehen. Lokale und regionale Anführer spielen eine sehr große Rolle. Hinzu kommt ihre Abwehrhaltung gegenüber den kommunistischen Rebellen (die allerdings vorwiegend im Norden und Osten Mindanaos operieren). Das alles wiederum erleichterte es der Regierung in Manila, die Bewegungen gegeneinander auszuspielen und sie zu schwächen.

Seit dem Sturz des Diktators Marcos (1986) haben es auch die nachfolgenden Präsidentinnen und Präsidenten (Corazon Aquino, Fidel Ramos und - seit 1998 - Joseph Estrada) nicht vermocht, die wesentlichen Probleme des Landes in den Griff zu bekommen: die hohe Arbeitslosigkeit (über 25 %), die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die extremen regionalen Disparitäten und die infrastrukturellen Defizite. Auch die Rebellenbewegungen, die im Untergrund agierende Kommunistische Partei und ihr militärischer Arm und viele "privatisierte" bewaffnete Formationen konnten nicht in Schach gehalten werden. Die wichtigsten Widerstandbewegungen neben der schon erwähnten MILF sind: Die MNLF (Nationale Befreiungsfront der Moro), die CPP (Kommunistische Partei der Philippinen), die NPA (Neue Volksarmee) und die NDF (Nationale Demokratische Front, eine Bündnisorganisation, die auch die CPP und die NPA vertritt). 1997 wurde ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der MNLF unterzeichnet, womit ein 24-jähriger Bürgerkrieg auf der Insel Mindanao formell beendet wurde. Der Krieg ging aber gegen MILF und die anderen Rebellengruppen weiter. Teilweise gab es Neugründungen, Abspaltungen von der MNLF, die den Kampf weiter führten, weil sie sich von der MNLF verraten fühlten. Zu diesen Gruppen gehört auch die Bande Abu Sayyaf (das "Schwert Gottes").

Den Aufständischen stehen nicht nur die regulären Armeeeinheiten gegenüber, sondern auch regierungstreue "Milizen", die den Rebellen in der Wahl der terroristischen Mittel in nichts nachstehen. Den Medien hierzulande, die sich fast ausschließlich mit dem Schicksal der Familie Wallert befassten, entging die zeitgleich zum Geiseldrama stattfindende Militäroffensive gegen die MILF, in deren letzter Phase (am 9. Juli) 40.000 Regierungssoldaten und 10.000 paramilitärische Citizen Armed Force Geographical Units (CAFGU) das Hauptquartier der MILF auf Mindanao stürmten und einnahmen.

Noch schlimmer ging die Armee zu Werke, nachdem - nicht zuletzt durch libysche Vermittlung und durch stattliche Lösegelder - im September die letzten Geiseln auf Jolo frei gelassen worden waren: In einer beispiellosen "Rambo-Aktion" (so der österreichische "Standard" vom 25.09.2000) griffen Armeeflugzeuge zwei Wochen lang wahllos Ortschaften an und durchkämmten 5.000 Soldaten die Insel. Ergebnis: Nach Regierungsangaben kamen 105 Abu-Sayyaf-Leute ums Leben und rund 40.000 Menschen flohen aus ihren Dörfern. Die - gemäßigte - MNLF spricht dagegen von 600 Getöteten, vorwiegend Zivilisten, und von 100.000 Flüchtlingen auf Jolo. Der philippinische Präsident Joseph Estrada wollte mit dieser brutalen Invasion Stärke zeigen und ein wenig von der Popularität zurückgewinnen, die er bei seiner Wahl 1998 besaß und die seitdem sukzessive verloren ging, weil er seine wirtschaftlichen und sozialen Versprechungen nicht einlöste. Doch der militärische "Befreiungsschlag" half nicht mehr. Das Parlament in Manila leitete im November ein Amtsenthebungsverfahren gegen Estrada ein. Ihm wird vorgeworfen, in seiner Amtszeit umgerechnet rund 20 Millionen DM von den Veranstaltern einer illegalen Lotterie angenommen zu haben. Massendemonstrationen fordern den Rücktritt des einstigen Filmhelden, der sich gern in der Robin-Hood-Pose eines "Anwalts der Armen" darstellte. Im Dezember enthüllte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, dass nach Berichten des deutschen Geheimdienstes Estrada 40 Prozent und der philippinische Unterhändler Aventajado 10 Prozent des Lösegeldes für die Jolo-Geiseln (gesamt: 44 Mio. DM) selbst eingesteckt haben.

Mindestens zwei Lehren sind aus den philippinischen Wirren des Jahres 2000 zu ziehen:
  • Einmal agierte die deutsche Diplomatie von Anfang an mäßigend. Immer wieder wurde die philippinische Regierung darauf aufmerksam gemacht, dass es aus dem Geiseldrama keine gewaltsame Lösung geben könne und dürfe. Wir richtig dieser Standpunkt ist, sollte sich mit den Gewaltexzessen der philippinischen Regierung nach dem Ende des Geiseldramas zeigen. Das Auswärtige Amt sollte diese Einsicht generell zur Richtschnur seines politischen Handelns machen.
  • Zum anderen dürfte - wieder einmal - hinreichend deutlich geworden sein, dass sich die politischen Anliegen benachteiligter und unterdrückter Bevölkerungsgruppen eines Landes mit terroristischen Methoden nicht vertreten lassen. Genauso wenig können die ihnen zugrunde liegenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme mit einer "Politik" militärischer Härte angemessen bearbeitet oder gar aus der Welt geschafft werden. In einem Zeitungskommentar hieß es warnend: "Beim freudigen Abhaken einer halbwegs glücklich endenden Affäre darf es aber deshalb nicht bleiben, weil die Geiselnahme von Jolo auf den politischen Sprengsatz verweist, der sich im Süden der Philippinen seit Jahren jenseits öffentlichen Interesses angesammelt hat. Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein, wenn er nicht allzu schnell wieder vergessen würde - bis zum nächsten Drama." (FR, 28.08.2000)
Das "nächste Drama" findet auf den Philippinen täglich statt. Doch solange keine Deutschen unter den Opfern sind, interessiert das hierzulande kaum. Allein am Wochenende 30./31. Dezember wurden bei einer Serie von Bombenanschlägen in Manila mindestens 22 Menschen getötet und 100 zum Teil schwer verletzt. 17 Muslime wurden darauf von der Polizei als Tatverdächtige festgenommen.
Pst

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