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Peru: Viele Jobs, aber so gut wie keine Verträge

Von Jürgen Vogt *

Am Wochenende (9./10. April) finden in Peru Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Die Wirtschaft des Landes boomt, deshalb ist mit grossen Umwälzungen nicht zu rechnen – auch wenn ein Drittel der PeruanerInnen unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Im historischen Zentrum der peruanischen Hauptstadt Lima laufen die Druck- und die Schneidemaschinen derzeit auf Hochtouren. Entlang der Callao-Strasse rattert, stanzt, walzt und quietscht es. Nur vier Querstrassen vom Regierungspalast entfernt lassen die PräsidentschaftskandidatInnen ihre Plakate und Handzettel drucken. Am 10. April wird gewählt.

«Hier ist alles informell», sagt Jesus Rolando Ramos. Stolz zeigt er auf das Herstellerschild seiner Edelmann-Offsetmaschine aus dem deutschen Offenbach. Die alte Postleitzahl verrät, dass deren Geburtsjahr vor 1993 gelegen haben muss. «Ich drucke nur.» Stanzen, schneiden, falzen, kleben, das alles machen andere KleinunternehmerInnen.

Rund 2000 Minibetriebe drängen sich in den Häusern und Läden entlang der Strasse. Je nach Bedarf sind hier 7000 bis 10.000 Menschen beschäftigt. Wer Glück hat, erhält den gesetzlichen Mindestlohn von 600 Soles im Monat, umgerechnet knapp 200 Franken. Und das für eine Sechstagewoche mit zehn bis vierzehn Stunden Arbeitszeit pro Tag.

Die Offsetmaschine spukt lärmend die Wahlplakate aus. Aufmerksam überwacht ein Angestellter von Ramos die rotierenden Walzen. Für wen er gerade die Wahlpropaganda druckt, ist ihm egal. Mit seinen siebzehn Jahren darf er ohnehin nicht wählen. Ob ihm sein Chef den Mindestlohn zahlt, will er nicht sagen.

Bei der anstehenden Präsidentschaftswahl ist nur eines sicher: Das absolute Mehr wird am 10. April niemand erreichen. Die beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen werden sich am 5. Juni einer Stichwahl zu stellen haben. Der jetzige Amtsinhaber Alan Garcia darf laut Verfassung nicht wieder kandidieren. Wer auch immer gewinnt, mit einem grossen Politikwandel ist nicht zu rechnen.

Bei Albino Skrzypietz’ Druckerei stapeln sich die Handzettel für Keiko Fujimori, die Tochter des früheren Präsidenten Alberto Fujimori. Dass Skrzypietz für Keiko Wahlwerbung druckt, heisst noch nicht, dass sie seine Stimme bekommt. «Meine Druckerei ist ordnungsgemäss angemeldet.» Nur deshalb hat er den Auftrag bekommen. «Manche Kandidaten achten auf so was, sie wollen nicht mit illegalen Betrieben in Verbindung gebracht werden.»

Die drei Angestellten von Skrzypietz haben ordentliche Arbeitsverträge, die vorgeschriebenen Beiträge für die Sozialversicherung werden ordnungsgemäss einbezahlt. Damit ist Skrzypietz eine Ausnahme. Lediglich zehn von den 2000 Minibetrieben sind legalisiert. «Staatliche Kontrolleure tauchen nur ganz selten auf. Und wenn, dann ist hier alles verrammelt und verriegelt.»

Ohne Anspruch auf Ferien

In Limas kleinen Druckbetrieben spiegelt sich die wirtschaftliche Lage Perus wider. Die Wirtschaft boomt und wächst jährlich um durchschnittlich sieben Prozent. Offiziell ist der Anteil der Armen unter den rund dreissig Millionen EinwohnerInnen seit 2001 von 54 auf 34 Prozent gesunken. Eine vierköpfige Familie gilt dann als arm, wenn sie weniger als umgerechnet 520 Franken im Monat zur Verfügung hat.

Doch das Wachstum hat seine Schattenseite. Siebzig Prozent der Arbeitsplätze sind im informellen Sektor. Von den fünfzehn Millionen erwerbstätigen Frauen und Männern arbeiten rund elf Millionen ohne feste Verträge. Weder sind sie sozialversichert, noch haben sie Anspruch auf Ferien und Feiertage. Allein 2008 sind 80.000 Arbeitsplätze im formellen Sektor verloren gegangen. Dagegen kamen im gleichen Jahr 660.000 meist wenig qualifizierte Jobs im informellen Bereich hinzu.

«Bei mir arbeitet niemand schwarz», sagt Luis Nieto Mendoza. Der Unternehmer macht die hohen Lohnnebenkosten dafür verantwortlich, dass es ihm so wenige seiner UnternehmerkollegInnen gleichtun: «Für hundert Soles Lohn muss ich bei jedem meiner Angestellten sechzig Soles an Zusatzleistungen zahlen.» Mendoza beschäftigt in seinem privaten Brief- und Kurierdienst rund hundert Leute und profitiert deshalb noch von den Vergüns­tigungen für Kleinunternehmen. Grössere Betriebe müssten noch viel mehr Abgaben pro MitarbeiterIn zahlen. Dabei ist es in Lima inzwischen gar nicht mehr so einfach, Beschäftigte zu finden: «Als ich vor sechs Jahren eine Anzeige mitgeschaltet habe – ‹Suche Kurier› –, hatte ich anderntags eine Schlange von Menschen vor dem Betrieb. Wenn ich heute die gleiche Anzeige schalte, kommen im besten Fall zwei bis drei Interessenten», sagt Mendoza.

Trotz der vielen neuen Jobs gelang es den Gewerkschaften bislang nicht, mehr Mitglieder zu gewinnen. Schuld daran ist ebenfalls der informelle Charakter der Arbeitsverhältnisse. Die Gewerkschaft der Bauarbeiter sei früher sehr stark gewesen, erzählt Mendoza. «Wenn die sagten, alles steht still, dann stand auch alles still.» Wenn die Gewerkschaft es heute sage, nehme alles weiter seinen normalen Gang. Von den 2,5 Millionen Beschäftigten im Baugewerbe erhalten heute nur noch 400.000 Sozialleis­tungen. «Der grosse Rest bekommt nichts. Alles ist informell geregelt», so Mendoza.

Wachsende Mittel- und Oberschicht

Während etwa im Andenhochland vom Wirtschaftswachstum nichts zu spüren ist, zeigt sich in den Hauptstadtbezirken Miraflores und San Isidro der Boom auf Schritt und Tritt. In den blank gefegten Strassen zwischen Bürogebäuden und Wohnhäusern stauen sich die importierten Luxuskarossen. An jeder dritten Strassenecke wird ein neues Gebäude hochgezogen. Die Shoppingcenter sind mit kaufkräftiger Kundschaft gefüllt, und vor den Edelres­taurants bilden sich abends die Schlangen der modebewussten FeinschmeckerInnen. Reichtum wird in Lima nicht versteckt.

Peru verdankt sein Wirtschaftswachstum vor allem der Exportwirtschaft und den international gestiegenen Rohstoffpreisen. Von den Exporten im Wert von 27 Milliarden Dollar im Jahr 2009 stammen sechzig Prozent aus dem Bergbaubereich. Vor allem Kupfer- und Silbervorkommen werden entlang der Anden ausgebeutet. Mit knapp sieben Prozent folgen die Agrarexporte. Peru hat sich zum weltgrössten Spargelproduzenten entwickelt und damit den traditionellen Export von Fisch- und Fischmehl in den Hintergrund gedrängt.

Die Regierung hat diesen Prozess nach Kräften unterstützt. In den Bergbau investieren grosse ausländische Minenunternehmen. Der scheidende Präsident Alan García hat die Öffnung des peruanischen Marktes für ausländisches Kapital und Waren weiter forciert. Ein Höhepunkt dieser Liberalisierungspolitik ist das Freihandelsabkommen mit den USA, das im Februar 2009 in Kraft trat. Die Verhandlungen mit der EU über ein ähnliches Abkommen wurden ein Jahr später abgeschlossen.

Ausländische InvestorInnen geniessen in Peru erhebliche Steuervorteile. Bergbaufirmen müssen nur etwas über drei Prozent ihres Erlöses an den peruanischen Fiskus abführen. Ihre Gewinne sind wegen der gestiegenen Weltmarktpreise für Kupfer und Silber nach oben geschossen. Allein 2010 haben sie acht Milliarden Franken eingefahren, was dem Jahreseinkommen von gut vierzig Prozent der Bevölkerung entspricht. Wirklich infrage gestellt werden diese Steuervorteile bei der kommenden Wahl allerdings nicht. Allenfalls streiten sich die KandidatInnen darüber, ob sie wegen der gestiegenen Weltmarktpreise eine Steuer auf die Zusatzgewinne erheben könnten.

Drohender Wassermangel

Das Wirtschaftswachstum droht allerdings buchstäblich auszutrocknen. Peru ist eines der Länder, die am meisten unter dem Klimawandel leiden. Schon jetzt ist ein Schwinden der Wasserreserven durch den Rückgang der Anden­gletscher zu beobachten. Trockenperioden nehmen zu. Ohne Wasser sind weder Agrarexporte noch Bergbau in grossem Stil möglich. «Wenn alles weitergeht wie bisher, wird es viele und sehr gewalttätige Konflikte um das Wasser geben», prognostiziert Carlos Pereyra Matsumoto von der nichtstaatlichen Organisation Iproga, die sich für eine Konfliktlösung bei der zukünftigen Wassernutzung einsetzt. «Spätestens in 25 Jahren werden wir eine extreme Wasserknappheit haben.»

Nach offiziellen Angaben geht das Wasser zu achtzig Prozent in die Bewässerung der Landwirtschaft, zu elf Prozent in den Verbrauch durch die Bevölkerung und lediglich zu zwei Prozent in den Bergbau- und den Erdgassektor. In der Landwirtschaft ist es vor allem der Anbau von Exportprodukten wie Zuckerrohr und Spargeln, der immer mehr Wasser erfordert.

Schon heute herrscht in den südlichen Provinzen Nasca und Palpa akuter Wassermangel, und in der knapp 25.000 EinwohnerInnen zählenden Provinzhauptstadt Nasca kommt das Wasser nur noch vier bis sechs Stunden aus den Hähnen. «Heute sind die Konflikte um das Wasser noch verborgen und latent», ist Matsumoto überzeugt. «Aber der Moment wird kommen, da werden sie explodieren.»


Die aussichtsreichsten Kandidatinnen

Von «Peru ist möglich» bis «Kraft 2011»

Am 10. April wird in Peru das Parlament neu bestellt und darüber abgestimmt, wer Alan García auf dem Präsidentenstuhl folgen soll. Das übliche Links-Rechts-Schema ist in Peru nicht von grosser Bedeutung. Die Parteien der KandidatInnen sind reine Wahlkampfvereine, die nach der Wahl wenig Gewicht haben. Nach den letzten Umfragen haben fünf KandidatInnen Chancen, in die zweite Runde einzuziehen:
  • Alejandro Toledo (65) von der Partei «Peru ist möglich» war von 2001 bis 2006 schon einmal Staatspräsident. Er wirbt mit dem Slogan «Ich habe es gut gemacht, ich mache es besser.» Seine Chancen stehen nicht schlecht, den viele PeruanerInnen wählen nach dem Motto: «Lieber den Dieb, den wir kennen, als ein neuer, der da kommt.»
  • Ollanta Humala (47) von «Peru gewinnt» war bei der Präsidentschaftswahl 2006 in der Stichwahl an Alan García gescheitert. Damals um­gab den früheren Militäroberst das Image eines peruanischen Chávez. Auf seiner Kongressliste hat er einige namhafte Altlinke vereinigt. Seine AnhängerInnen kommen vor allem aus dem ländlichen Raum.
  • Pedro Pablo Kuczynski (72) von der «Allianz für den grossen Wandel» hat sich in den letzten Wochen in den Umfragen nach oben gearbeitet. Der frühere Wirtschafts- und Finanzminister sass auch schon auf mehreren Direktionsposten bei internationalen Banken und ausländischen Öl- und Gasfirmen. Er ist ein ausgesprochener Lobbyist der Bergbauindustrie.
  • Keiko Fujimori (35) von «Kraft 2011» trat bisher vor allem als Tochter des früheren Präsidenten Alberto Fujimori in Erscheinung. Dieser sitzt im Gefängnis von Lima eine über dreissigjährige Haftstrafe wegen des von ihm befohlenen Einsatzes von Todesschwadronen und wegen Korruption ab. Von 2006 bis 2010 war Keiko Fujimori Kongressabgeordnete. Sollte sie gewinnen, ist die Freilassung von Alberto Fujimori nur noch eine Frage der Zeit.
  • Luis Castañeda (65) von der «Nationalen Solidarität» war von 2003 bis 2010 Bürgermeister von Lima. Er gilt als autoritär. Zwar hat er in der Hauptstadt einiges bewegt, doch die Finanzierung seiner vielen Projekte war wenig transparent, und die Kosten liefen aus dem Ruder.


* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 7. April 2011


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