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"Auch der Linken mangelt es an neuen Führern"

Gespräch mit Walter Palacios Vinces. Über den revolutionären Kampf in Peru und darüber, welche Fehler gemacht wurden. Und über die aktuelle Lage des Landes


Walter Palacios Vinces ist einer der wenigen Überlebenden des bewaffneten Kampfes, den der MIR 1965 in den peruanischen Anden um Cuzco und Junin entfaltete.1992 mußte Walter Palacios Vinces während der diktatorischen Regierung von Alberto Fujimori das Land verlassen und lebte bis 2002 als politischer Flüchtling in Mexiko. Als er 2002 nach Peru zurückkehrte, wurde er verhaftet und bis 2006 inhaftiert. Auch danach setzte er seine politische Arbeit fort, er beteiligt sich an Konferenzen, Diskussionen über die Geschichte und politische Situation in Peru. Aktuell sammelt, systematisiert und analysiert er Dokumente und Zeugenaussagen der revolutionären peruanischen Linken der 60er Jahre im Kontext der lateinamerikanischen und karibischen Kämpfe. Er will diese Erfahrungen in einem Buches veröffentlichen.

Sie zählen zu den Veteranen der revolutionären Linken in Peru. Was waren die wichtigen Momente in Ihrem politischen Leben?

Ich bin seit fast 60 Jahren politisch aktiv, seit meiner frühen Jugend. In dieser langen Zeit hatte ich die Gelegenheit, viele Ereignisse in meinem Land und international zu erleben. Es ist nicht leicht für mich aufzuzeigen, was die wichtigsten Momente waren, aber wenn ich einige zusammenfasse, so könnte ich sagen: Ich lernte Luis de la Puente Uceda kennen, einen revolutionären peruanischen Anführer, er gab mir Unterricht und war mein Vorbild. Mit ihm gründeten wir 1959 das »Movimiento de Izquierda Revolucionario« – (MIR. Bewegung der revolutionären Linken). Er war unser Generalsekretär und oberster Kommandeur. 1965 fiel er an der Guerillafront von Pachacutec, in den Bergen von Cusco.

Ein anderes Ereignis, das ich miterlebte, war der Triumph der kubanischen Revolution 1959. Ich lernte zwei ihrer wichtigsten Anführer kennen: Fidel Castro und Ché Guevara. Ich erlebte auch den heroischen Kampf und Sieg des vietnamesischen Volkes, und ich sprach mit Ho Chi Minh.

Ich hatte auch schwierige, traurige und schmerzhafte Erlebnisse wie den Tod und das spurlose Verschwinden wertvoller Genossen, Revolutionäre und sozialer Kämpfer, wie z.B. von Ché; die Niederlagen, das Verschwinden des sozialistischen Lagers und die Hegemonie des Kapitalismus mit den USA, die sich selbst zum Gendarmen der Humanität aufblasen.

Was waren die Visionen des MIR in den 60er Jahren?

In meinem Land litt die große Mehrheit der Bevölkerung unter der Ausbeutung der herrschenden Klassen, deren Interessen mit denen des nordamerikanischen Imperialismus verbunden waren. Die Herrschenden übergaben unsere Naturreichtümer dem ausländischen Kapital. Die Bauern waren dem Großgrundbesitz unterworfen, und die Arbeiter sahen ihre Arbeitsrechte mit den Füßen getreten. In dieser Situation taucht MIR auf, um auf revolutionäre Weise für soziale Gerechtigkeit und Sozialismus zu kämpfen. Das war auch eine kritische Antwort an die traditionellen Parteien der Linken mit ihrer Predigt vom angeblichen Marxist- und Revolutionär-Sein. Wir sahen uns als guevaristische, lateinamerikanische Organisation, die sich nicht blindlings zu einem der internationalen Pole des sozialistischen Lagers bekannte, diese Pole waren in jenen Jahren Moskau und Peking.

Was waren die Ursachen, die später zur Zerschlagung des MIR führten?

Ich bin der Meinung, daß die politische Strategie des MIR in bezug auf den bewaffneten Kampf in diesen Jahren völlig korrekt war. Es lassen sich verschiedene Irrtümer und taktische Fehler feststellen, die zur militärischen Zerschlagung des MIR führten.

Ich versuche, einige aufzuzählen: Dazu gehört, die neue Situation nach dem ­Triumph der kubanischen Revolution nicht ausführlich genug untersucht zu haben. Oder: Sich einem Feind entgegenzustellen, der jede nur erdenkliche Wirtschafts- und Militärhilfe sowie Beratung von der nordamerikanischen Regierung bekam. Die USA waren nicht bereit, einen weiteren revolutionären Sieg in Lateinamerika oder der Karibik zuzulassen.

Wir überschätzten unsere eigenen Kräfte und unterschätzten die unserer Feinde. Wir bereiteten weder uns noch das Volk darauf vor, einer brutalen Repression der »verbrannten Erde« zu widerstehen. Es fehlte die vorbereitende Arbeit mit den Massen, die es gestattet hätte, die Aktionen des MIR zu verbreitern, zu vertiefen und zu stärken.

Als die Guerilla mit der Arbeit zum Aufbau der Partei innerhalb der Landbevölkerung begann und der MIR Interviews und Manifeste zu Beginn des bewaffneten Kampfes veröffentlichte, erleichterte das dem Geheimdienst und den Streitkräften, die Zonen mit Guerillapräsenz ausfindig zu machen und repressive Aktionen vorzubereiten.

Man beschloß, daß der Arbeit auf dem Land die entscheidende Rolle zugewiesen wird, der bewaffneten Aktion der Landguerilla. Die Arbeit in den Städten mit den Arbeitern und den Studenten wurde vernachlässigt, und so konnte man weder auf einen adäquaten Apparat der Koordination und logistischen Unterstützung für die Guerilla zählen, noch mögliche gemeinsame Aktionen mit anderen politischen Kräften der Linken koordinieren.

Vor dem Beginn des bewaffneten Kampfes teilten wir unsere politisch-militärischen Kader, deren Ausbildung uns soviel gekostet hatte, auf drei Guerilla­fronten im Süden, Norden und im Zentrum des Landes auf. Wir hatten kein effizientes Kommunikations- und Verbindungssystem und schwächten so die Führung und die Guerillaoperationen. Das erleichterte repressive Gegenaktionen.

Dem Aufbau der Sicherheitszonen in den Guerillagebieten wurde viel Zeit und viel Kraft gewidmet. Das Heer machte sie ausfindig, beschloß, sie einzunehmen und zu zerstören. Es fehlte an einer besseren und bedächtigeren Arbeit bei der Auswahl der Kader und der Kämpfer, um die Sicherheit der revolutionären, klandestinen Arbeit zu gewährleisten.

Wie ist die Situation der heutigen Linken? Es heißt, sie sei sehr zersplittert.

Man kann sagen, daß es in meinem Land eine Krise der repräsentativen Politik gibt. Die Parteien sind geschwächt, und es fehlen ihnen überzeugende Persönlichkeiten. Auch der Linken mangelt es an neuen Führern. Sie ist in verschiedene Organisationen aufgeteilt und ohne Ansehen innerhalb des Volkes. Einige Organisationen sind verschwunden, und andere versuchen jedes Mal dann, wenn Präsidentschafts- und Kongreßwahlen anstehen, aktiv zu werden. Es gibt eine Reihe von Leuten, die sich links und progressiv nennen und sich Ollanta Humala, dem Anführer der Partido Nacionalista (Nationalistische Partei), angeschlossen haben. Er war Oberstleutnant und präsentiert sich als Opposition zur peruanischen Rechten. Aber es gibt auch eine wichtige soziale Bewegung, die radikal die neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung von Alan Garcia sowie die Korruption zurückweist. Die macht immer wieder mit Kämpfen und Protestaktionen von sich reden.

Wie charakterisieren Sie die Bewegung »Tierra y Libertad« (Land und Freiheit)? Und wie ihren Anführer, den früheren Priester Marco Arana? Ist sie Teil der Linken?

»Tierra y Libertad« ist eine politische Bewegung, die in den vergangenen zehn Jahren entstand. Arana wurde vor allem bekannt durch seine Anklagen gegen große ausländische Bergwerksunternehmen in dem Bezirk von Cajamarca. Das sind Unternehmen, die die Rechte der Bevölkerung und der Arbeiter sowie den Umweltschutz nicht respektieren. Seine Parteigänger nennen Arana den Ökologisten der Armen, vor kurzem erhielt er einen Preis in der BRD. »Tierra y Libertad« kann man als populäre Bewegung auf dem Land und als links bezeichnen, das ist aber auch abhängig von ihren künftigen Aktionen innerhalb der Volkskämpfe und von dem, was in Lateinamerika geschieht. Sie wollte an den Wahlen teilnehmen, hat jedoch vorerst ihr Ziel nicht erreicht.

Der »Leuchtende Pfad« (Sendero Luminoso) war in den 80er und Anfang der 90er Jahren eine starke militärische Kraft. Während der Diktatur von Alberto Fujimori wurde er zerschlagen. Aktuell hört man immer wieder mal von militärischen Aktivitäten, die ihm zugeschrieben werden. Was ist von diesen Aktionen zu halten?

Der »Leuchtende Pfad« ist enorm geschwächt und hat sich nach seiner Zerschlagung und der Verhaftung von Abimael Guzman, seinem obersten Anführer, gespalten. Er verständigte sich mit dem Diktator Fujimori und dessen Berater Montesinos, um aus dem Gefängnis heraus ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. Es gibt rückständige Minderheiten des »Leuchtenden Pfades«, die weiter in bestimmten Bergregionen aktiv sind, speziell dort, wo auch die Mafia der Drogenhändler und -produzenten präsent ist.

Die Situation ist nicht ganz klar. Einige Beobachter geben zu bedenken, daß solche Aktivitäten der Polizei und der Regierung Argumente liefern, um von den USA Hilfe zu erbitten. Zusätzlich dienen sie als Vorwand zur Unterdrückung der Volksbewegung. Das kommt den Herrschenden sehr gelegen, und man darf auch nicht vergessen, daß Peru und Kolumbien die wichtigsten Produzenten von Kokablättern sind. Die sind das Basisprodukt für die Herstellung von Kokain, mit dem im Ausland, speziell in den USA und Europa, große Geschäfte gemacht werden.

Am 10. April gab es in Peru Präsidentschafts- und Kongreßwahlen, Humala bekam etwa 32 Prozent der Stimmen und konnte sich als stärkster Kandidat für die Stichwahl am 5. Juni qualifizieren. Gegen ihn tritt Keiko Fujimori an, die Tochter des früheren Staatschefs Alberto Fujimori, der wegen Korruption und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt. Wie ist sie einzuschätzen?

Sie gehört zum extrem rechten Rand des politischen Spektrums in Peru und präsentiert sich als Hardlinerin im Stil ihres Vaters. Sie würde als Präsidentin natürlich versuchen, ihren Vater frei zu bekommen – das wäre ein nicht zu akzeptierender Akt der Straffreiheit.

Wie sehen Sie die politische Zukunft der Linken in Peru? Welchen Einfluß haben die progressiven Regierungen in dieser Region, wie die von Venezuela, Bolivien, Ecuador?

Die traditionelle peruanische Linke wird keinen größeren Einfluß in der Politik unseres Landes haben, wenn sie sich politisch und organisatorisch nicht erneuert, wenn sie nicht ihren Opportunismus und ihr Sektierertum, die sie vom Volk entfernen, überwindet. Es ist gewiß so, daß die fortschrittliche Politik einiger Regierungen in Lateinamerika das beeinflußt, was in Peru geschieht. Aber viel hängt von uns selbst ab, von unserer eigenen Arbeit; davon, wie wir unsere Fehler korrigieren und unsere Defizite beseitigen, damit dann das Volk eine starke Front hat, um gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik anzugehen, unter der wir seit mehr als zwei Jahrzehnten leiden.

Reden wir vom »Movimiento Revolucionario Túpac Amaru« (MRTA, Revolutionäre Bewegung Túpac Amaru). Wie viele seiner Mitglieder sind noch im Gefängnis?

Erinnern wir uns, daß 1996, als die Fujimori-Diktatur am mächtigsten war, ein Kommando der MRTA die Residenz des japanischen Botschafters besetzte und die Freiheit von 480 Gefangenen forderte. Wie wir wissen, ist diese Operation gescheitert; das MRTA-Kommando wurde bei der Erstürmung der Botschaftsresidenz durch das peruanische Militär liquidiert. In den vergangenen Jahren wurden die Gerichtsverfahren gegen die politischen Gefangenen aus der Zeit der Fujimori-Diktatur revidiert, und viele Gefangene kamen im Lauf der Zeit frei. Heute sind in den Gefängnissen meines Landes noch etwa 40 politische Gefangene der MRTA.

Drei der obersten Anführer, unter ihnen der ehemalige Generalsekretär Víctor Polay Campos, befinden sich in einer Militärbasis der Kriegsmarine in dem Hafen von Callao und verbüßen hier langjährige Strafen. Sie sind schon seit mehr als 15 Jahren in Haft, und in diesem Militärgefängnis gibt es ein rigoroses System der Isolierung. Ein Gerichtsurteil besagt, daß die Gefangenen in eine Anstalt verlegt werden sollen, die unter ziviler und nicht unter militärischer Verwaltung steht. Doch die Regierung von Alan García erkennt dieses Urteil nicht an und weigert sich, es umzusetzen.

Es ist mir wichtig, speziell auf die Situation von Jaime Ramírez Pedrada hinzuweisen, der sich in einem Gefängnis in Lima in sehr kritischem Gesundheitszustand befindet. Er hat eine seltene neuro-degenerative Krankheit und ist deshalb praktisch invalide. Er benötigt dringend internationale Solidarität, um bei der peruanischen Regierung eine Haftbefreiung aus humanitären Gründen zu bewirken. Er könnte dann im Ausland eine Therapie erhalten. Das Internationale Rote Kreuz hat sich offiziell seines Falles angenommen und Schritte unternommen, um eine Begnadigung aus humanitären Gründen zu erreichen. Das Gleiche machen die katholische Kirche und humanitäre Organisationen. Die internationalen Organisationen sind dringend aufgefordert, diese Bemühungen zu unterstützen.

Andere Gefangene sind frei gekommen und integrieren sich wieder ins Familienleben, aber auch in die Politik. Sie beteiligen sich an den Wahlen auf der Liste »Nationales Erwachen für ein Freies Vaterland«. Damit durchbrechen sie das Schweigen und die Ausgrenzung, in die sie die politische Rechte Perus und auch einige inkonsequente linke Parteien abdrängen wollten.

Eine Wahrheitskommission hat die Wiedergutmachung für die zivilen Opfer staatlicher Verbrechen sowie eine Justizreform gefordert, damit die Verantwortlichen bestraft werden können. Wurden diese Empfehlungen umgesetzt?

Die Verbrechen des Militärs, der Polizei und auch des »Leuchtenden Pfades« gegen die Zivilbevölkerung während des bewaffneten internen Konflikts waren so offensichtlich, daß die Regierung sich in Anbetracht des Drucks der Bevölkerung gezwungen sah, die »Kommission für Wahrheit und Versöhnung« ins Leben zu rufen. Eine ihrer Empfehlungen war eine staatliche Wiedergutmachung für die Opfer in der bäuerlichen Bevölkerung. Bis heute hat der Staat die Mittel nicht bereitgestellt. Die Familienangehörigen der Opfer warten noch immer auf Gerechtigkeit, ohne sie kann es keine nationale Versöhnung geben.

Die Justizreform, die die Wahrheitskommission empfohlen hat und die besagt, daß die Soldaten und Polizisten, denen Verbrechen gegen die Bevölkerung angelastet werden, sich vor einem Zivil- und nicht vor einem Militärgericht zu verantworten haben, ist nicht umgesetzt worden. Und wenn ein Staatsanwalt oder ziviler Richter einem Fall in dieser Richtung nachgehen möchte, so können sie es nicht tun, da die Regierung, vertreten durch den Verteidigungsminister, sich weigert, die Identität der Soldaten oder Polizisten preiszugeben, die an den kriminellen Operationen beteiligt waren. Diese Form der Straffreiheit gestattet es nicht, Versöhnung und sozialen Frieden in Peru zu erreichen.

Interview: Interview/ Übersetzung: Oskar Schmid und Helmut Kaiser

* Aus: junge Welt, 23. April 2011


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