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"Der Dialog über die Agrarreform hat begonnen"

Der neue Staatspräsident von Paraguay setzt innen- wie außenpolitisch auf Ausgleich. Ein Gespräch mit Fernando Lugo

Fernando Lugo ist seit dem 15. August Staatspräsident von Paraguay. Von 1994 bis 2005 war er Bischof der katholischen Diözese San Pedro. Er ist Anhänger der in der katholischen Kirche umstrittenen Befreiungstheologie und gilt als Anwalt der Armen.



Als neuer Staatspräsident Ihres Landes stehen Sie vor großen Herausforderungen. Eine davon ist, daß 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Besitz von nur einem Prozent der Bevölkerung sind. Sie streben eine Landreform an – aber wie wollen Sie die umsetzen, ohne in einer der beiden Kammern ein Mehrheit zu haben?

Die paraguayanische Gesellschaft hat eine gewisse Reife erreicht. Mein Eindruck ist, daß sich alle politischen Kräfte an einen Tisch setzen wollen, um von der Gegenwart ausgehend unsere Ziele zu definieren. Das gilt auch für die Agrarreform. Wir hatten schon ein erstes Gespräch zwischen Vertretern der landlosen Bauern, staatlichen Institutionen und Großgrundbesitzern. Der Dialog hat begonnen, zunächst ohne große Streitigkeiten. Wobei ich sagen muß, daß uns politische Differenzen und unterschiedliche Positionen nicht abschrecken. Solange auf allen Seiten der Wille zum Dialog besteht, meine ich, daß eine Agrarreform durchaus machbar ist, die der großen Mehrheit der Landlosen nutzt.

Sie werden »Bischof der Armen« genannt – wollen Sie auch Präsident der Armen sein?

In erster Linie will ich Präsident aller Paraguayaner sein – ohne jemanden dabei auszuschließen. Aber wenn Sie mich danach fragen, wem mein besonderes Augenmerk gilt, würde ich schon sagen, daß es die indianischstämmige Bevölkerung und die Ärmsten sind – beide Gruppen wurden bislang von der Politik kaum berücksichtigt.

Kurz nach Ihrem Amtsantritt gab es Gerüchte über einen Putschversuch, in den Regierungsmitglieder und Angehörige der Streitkräfte verwickelt gewesen sein sollen. Sind diese Berichte zutreffend? Und fürchten Sie, daß es weitere Versuche geben könnte, Sie zu stürzen?

In Paraguay ist es ja so, daß die durch die Colorado-Partei repräsentierte politische Klasse über 60 Jahre die Macht hatte. Es ist natürlich nicht leicht für sie, sich damit abzufinden, daß sie nicht mehr an den Schalthebeln sitzt. Von daher ist es verständlich, daß sie versucht, auf irgendeine Weise ihre bisherigen Privilegien zu sichern. Aber von einem Putschversuch kann keine Rede sein – ich glaube auch nicht, daß irgend jemand so etwas in einem der anderen Staaten Lateinamerikas plant.

Paraguay muß sich nicht nur mit dem Einfluß der USA auseinandersetzen, sondern auch dem Brasiliens. In der Vergangenheit gab es mit diesem Nachbarland einige Reibereien, vor allem um die von Paraguay geforderte Neuverhandlung des Vertrages um das von beiden Staaten gebaute Wasserkraftwerk Itaipú – der weltweit größten Anlage ihrer Art. Glauben Sie, daß es zu einer einvernehmlichen Lösung kommt?

Wir streben gute Beziehungen zu allen Nachbarländern an – aber auf gleicher Augenhöhe. Vor einigen Wochen habe ich mit mit Brasiliens Präsident Inacio Lula da Silva getroffen. Gemeinsam mit Diplomaten und Technikern beider Seiten besprachen wir alle Probleme – die Gespräche werden weitergehen. Ich bin sicher, daß wir durch einen ehrlichen und offenen Dialog alle Differenzen beseitigen können.

Sie sind als Anhänger der »Befreiungstheologie« bekannt, die allerdings von der Hierarchie Ihrer Kirche eher abgelehnt wird. Welche Rolle spielt Ihrer Einschätzung nach heute der Katholizismus in Lateinamerika?

Die Befreiungstheologie ist auf unserem Subkontinent entstanden. Natürlich gibt es Kontroversen darüber – schließlich herrscht ja Gedankenfreiheit. Es ist daher falsch, sie von einem dogmatischen Standpunkt aus zu beurteilen. Lassen Sie mich den verstorbenen Papst Johannes Paul II. als Kronzeugen heranziehen: In einem Brief an die brasilianischen Bischöfe versicherte er, daß die Befreiungstheologie zum theologischen Bestand der Weltkirche gehört. Diese theologische Richtung ist also durchaus anerkannt – auch wenn es in ihr unterschiedliche Tendenzen gibt, die von den einen begrüßt, von den anderen in Frage gestellt werden.

(Übersetzung aus dem Spanischen: Peter Wolter)

Interview: Amy Goodman / Juan González (Democracy Now!)

* Aus: junge Welt, 4. Oktober 2008


Kampf den Latifundisten

Paraguays Präsidenten beim Wort nehmen: Kleinbauern und Landlose fordern von der neuen Regierung eine Agrarreform

Von Timo Berger **

In den vergangenen Monaten kam es in Paraguay immer wieder zu Landbesetzungen. Mitglieder der paraguayischen Kleinbauernbewegung (»Movimiento Campesino Paraguayo« – MCP) machen mit ihren Aktionen auf die äußerst ungleiche Verteilungen der Anbauflächen in dem südamerikanischen Binnenland aufmerksam. Zwar ist die Produktion von Soja, Mais, Maniok und Zuckerrohr eine wichtige Einnahmequelle der paraguayischen Wirtschaft – 39 Prozent der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft. Doch der Agrarsektor ist hochkonzentriert. Einige wenige Latifundisten streichen das Gros der Gewinne ein. Nach Zahlen der französischen Tageszeitung Le Monde besitzt ein Prozent der Bevölkerung 77 Prozent der Anbauflächen. Viele Kleinbauern verfügen dagegen nicht einmal über eine kleine Parzelle Land. Von den 6,67 Millionen Paraguayer leben 1,13 Millionen weiterhin in extremer Armut.

Die Chancen, daß sich an diesen Verhältnissen bald etwas ändert, dürften eigentlich nicht schlecht stehen: Im August übernahm der Mitte-Links-Politiker und ehemalige Bischof Fernando Lugo die Präsidentschaft und beendete 61 Jahre Alleinherrschaft der Partido Colorado. Er wird unterstützt von einem breiten Bündnis aus linken Parteien und sozialen Bewegungen – darunter auch Landlosenorganisationen.

Nach dem Wahlsieg Lugos wuchs der Konflikt zwischen Landlosen und Latifundisten an: Seit April kam es immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen; mehrere Kleinbauern wurden von den paramilitärischen Stoßtrupps der Großgrundbesitzer ermordet. Die Latifundisten fühlen sich bedroht, wie Héctor Cristaldo gegenüber der Nachrichtenagentur AP (2. Oktober) erklärte. Ihm zufolge haben Kleinbauern derzeit 200 Lager vor den großen Haciendas des Landes aufgeschlagen. Der Präsident der Coordinadora Agrícola, einem Zusammenschluß der großen Agrarproduzenten, befürchtet, die Landlosenaktivisten würden nur den geeigneten Moment abwarten, um die Ländereien zu besetzen.

Trotz der angespannten Atmosphäre hat in der vergangenen Woche auf 2,6 Millionen Hektar die Aussaat von Soja begonnen. Paraguay ist mittlerweile nach Brasilien und Argentinien zum drittgrößten Sojaproduzenten des Subkontinents aufgestiegen. Soja als Hauptexportprodukt sorgt für Einnahmen von über 700 Millionen US-Dollar. Allerdings profitieren davon bisher nur wenige. Die Monokulturen laugen zudem den Boden schnell aus, und um die Plantagen gegen Schädlinge zu schützen werden massiv Pestizide eingesetzt.

Präsident Fernando Lugo verglich vergangene Woche in einer Rede vor der UN-Vollversammlung die Versprühung von nicht zugelassenen Pestiziden mit Terrorismus und machte die »Agrotóxicos« (»Agrargifte«) verantwortlich für den Tod von Kindern. Ähnlich wie seine Amtskollegin Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien möchte Lugo dennoch Gewinne aus dem boomenden Soja-Geschäft abschöpfen. Geht es nach ihm, müssen die Produzenten künftig eine 15prozentige Gewinnsteuer an den Staat abführen – bislang zahlen sie nur Umsatzsteuer und eine Abgabe für die Bodennutzung.

Paraguays Präsident braucht dringend Geld, um seine ehrgeizigen Pläne für den sozialen Wandel umzusetzen. Die Besteuerung des lukrativen Sojabusineß erscheint als der einzige Weg, um Gelder in die klamme Staatskasse zu spülen – nachdem sein brasilianischer Amtskollege Luis Inácio »Lula« da Silva Lugos Ansinnen, künftig einen höheren Preis für die im größten gemeinsam betriebenen größten Wasserkraftwerk der Welt in Itaípu erzeugten Strom zu bezahlen, eine Abfuhr erteilt hat. In den Wahlkampf war Lugo mit dem Versprechen einer ganzeinheitlichen Landreform gezogen: Er will nicht nur Grund und Boden neu verteilen, sondern auch Kleinbauern und Indígenas, die eigentlichen Arbeiter auf den Anbauflächen, in Subjekte einer neuen landwirtschaftlichen Produktionsweise verwandeln – ein Ansatz, den auch die MCP verfolgt. Die Ende 1980, noch zu Zeiten der Stroessner-Diktatur, gegründete Bewegung setzte von Anfang an auf eine Landreform und die Selbstorganisation und Unabhängigkeit der Kleinbauern.

Dementsprechend ist die Geduld der Landlosen begrenzt. Aktivisten wie Marclino Corazón Medina kritisieren einen vergangenene Woche von der Regierung vorgelegten Hilfsplan für die Kleinbauern als »neoliberal«. Der Präsident habe behauptet, beklagt sich Medina, es gäbe kein staatliches Land zu verteilen, und »wir müßten warten, bis die Steuereinnahmen gestiegen seien, damit private Ländereien aufgekauft oder enteignet werden könnten«. »Doch selbst dann«, kritisiert Medina, »müßten wir Kredite aufnehmen, um mit der Bewirtschaftung [der Flächen] zu beginnen«.

Deswegen haben die Landlosen in den vergangenen Tagen mehrere Fernstraßen im Landesinneren blockiert. Der Kampf um eine gerechtere Verteilung des Landes geht weiter. Präsident Lugos größtes Anliegen ist jetzt, die geplünderten Staatskassen wieder zu füllen, um nach 61 Jahren Kleptokratie und Korruption endlich wieder etwas an die Ärmsten der Armen verteilen zu können.

** Text zu einer Fotoreportage von Jorge Saenz, die am 4. Oktober 2008 in der Wochenendausgabe der "jungen Welt" erschien.


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