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Kein Friede den Hütten

Israels Politik der Verdrängung geht unbeirrt weiter

Von Tsafrir Cohen *

Israels Regierung spricht über Frieden, tut jedoch alles, um das Leben der einfachen palästinensischen Bäuerinnen und Bauern im Jordantal zur Hölle zu machen. Angesichts der Schikanen gibt sich sogar das Rote Kreuz geschlagen. Es ist Zeit umzudenken: Menschen-, Bürger- und Völkerrecht für alle! Jetzt.

Erneut wurden Hütten im Dorf Jiftlik im Jordantal abgerissen. Das wenige Hab und Gut dreier palästinensischer Familien ist – zum wievielten Mal? - wieder schutzlos der Witterung ausgesetzt. Noch während sich die israelische Regierung öffentlichkeitswirksam auf einen Friedensprozess einlässt und seit dem Sommer an Friedensgesprächen teilnimmt, tut sie alles, um einen Frieden unmöglich zu machen. So siedelt sie immer mehr jüdisch-israelische Siedler in dem von Israel besetzten Westjordanland an, in jenem kleinen Restgebiet des historischen Palästinas, das ein künftiges Palästina sein müsste und könnte. Gleichzeitig reißen die israelischen Militärbehörden immer mehr zivile palästinensische Infrastruktur ab und vertreiben damit palästinensische Männer, Frauen und Kinder aus ihren Häusern und von ihrem Land.

Das Ausmaß der Zerstörung und die anhaltende Verhinderung der internationalen Hilfsmaßnahmen sind so gravierend, dass das Internationale Rote Kreuz Anfang Februar 2014 im Jordantal die Verteilung von Zelten an Familien, deren Häuser zerstört wurden, beendet hat. Eigentlich äußert das Internationale Rote Kreuz nicht öffentlich Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Mittlerweile ist die Organisation allerdings derart empört darüber, dass die israelischen Behörden regelmäßig Hilfsgüter beschlagnahmen, dass es diese Kritik in einem Kommuniqué zum Ausdruck brachte.

Den israelischen Schikanen wohnt eine klare Logik inne, die Israels Regierungen seit nunmehr vier Jahrzehnten verfolgen: Sie erschweren der palästinensischen Bevölkerung auf dem Land das Leben, um sie in dicht gedrängte Enklaven zu verdrängen. Eine "schleichende Vertreibung" nennen das mittlerweile auch hohe US-amerikanische, deutsche und EU-VertreterInnen. Ein künftiges Palästina soll eher aus voneinander und von der Außenwelt abgetrennten „Bantustans“ bestehen.

Dieser Logik hat auch die aktuelle israelische Regierung nicht abgeschworen. Die Zahlen sprechen hier eine klare Sprache: In 2013 wurden mehr palästinensische Frauen, Männer und Kinder aus ihren Häusern vertrieben als in jedem der fünf vorangegangenen Jahre. Seit Beginn der Friedensverhandlungen wurden 43 Prozent mehr Häuser abgerissen und 74 Prozent mehr Menschen aus ihren Häusern vertrieben als in der vergleichbaren Periode ein Jahr davor.

Tatort Jordantal

Wirkungsmächtig ist diese Politik besonders im Jordantal. Hier wurde mehr als doppelt so häufig abgerissen wie noch 2012. Mehrere medico-Partner arbeiten seit Jahrzehnten mit den palästinensischen Bauern und Bäuerinnen des Jordantals. Etwa die Ärzte für Menschenrechte – Israel, deren mobile Klinik die Dörfer im Jordantal regelmäßig aufsucht. Hier arbeitet jüdisches und arabisches Gesundheitspersonal, allesamt Freiwillige. Zusammen mit palästinensischen KollegInnen, wie dem medico-Partner Palestinian Medical Relief Society bieten sie kostenfreie Untersuchungen und Medikamente. Die konkrete Hilfe zielt gleichzeitig auf die Politisierung des israelischen Gesundheitspersonals. Dieses ist oft zum ersten Mal mit der Besatzungsrealität konfrontiert. Für Hadas Ziv, die langjährige Direktorin der Ärzte für Menschenrechte – Israel, ist die Sache klar: „Solche Zerstörung ziviler Infrastruktur ist eine eklatante Verletzung des Humanitären Völkerrechts. Sie zerstört die materielle Grundlage vieler Gemeinden und Einzelpersonen und beeinträchtigt in hohem Maße ihr physisches und psychisches Wohl“. Genau das beobachten die KollegInnen der Palestinian Medical Relief Society (PMRS). In einem umfangreichen Projekt, das medico mit eigenen Spendengeldern und mithilfe des Deutschen Auswärtigen Amts finanziert, sichern mehrere mobile Kliniken die Grundgesundheitsversorgung in Dutzenden von ländlichen Gemeinden in verschiedenen Teilen der Westbank, die durch Eingriffe und Aktivitäten der israelischen Sicherheitskräfte, aber auch durch gewalttätige Übergriffe von rechtsradikalen jüdischen SiedlerInnen gefährdet sind.

Im Jordantal, so Dr. Mohammed Iskafi, Leiter der mobilen Kliniken bei PMRS, leidet die Landbevölkerung besonders darunter, dass Israel immer mehr Land zugunsten der jüdischen Siedlungen beschlagnahmt und für die palästinensischen Gemeinden auch den Zugang zu Wasserressourcen einschränkt. „Ganze Gemeinden verarmen. Das hat Konsequenzen für die Gesundheitssituation der Menschen hier. Sie können sich weder, die Fahrt zum nächstgelegenen Gesundheitszentrum leisten, noch sind sie in der Lage, sich um die eigene Gesundheit und die ihrer Kinder zu kümmern. Unsere mobilen Kliniken sind für sie der einzige Zugang zu Gesundheitsdiensten, sei es die Behandlung der Kinder, sei es die (Früh)Erkennung und Behandlung von chronischen Krankheiten oder die Überweisung von Patienten für eine weiterführende Behandlung. Familien, die gerade ihr Dach über dem Kopf verloren haben, sind besonders gesundheitsgefährdet. Hier treten nicht nur Atemwegserkrankungen und Krankheiten aufgrund von schlechten hygienischen Bedingungen verstärkt auf, sondern auch Bettnässen und innerfamiliäre Gewalt.“

Eine originelle Form des gewaltfreien Widerstands gegen die Verdrängung der PalästinenserInnen im Jordantal ist die Gegenbesatzung: Anfang Februar 2014 haben palästinensische AktivistInnen im Herzen des Jordantals das Dorf Ein Hijleh, das nach der israelischen Besatzung 1967 entvölkert wurde, wieder besiedelt. Ihr Ziel ist eine nicht nur symbolische Wiederbelebung des Dorfs. Hunderte von Freiwilligen setzten Gebäude instand, pflanzten Bäume gepflanzt, räumten Schutt weg, führten Filme vor. Der medico-Partner PMRS übernahm die Gesundheitsversorgung und eröffnete sogar symbolisch eine Klinik. Dies alles schreckte die israelischen Behörden gehörig auf. Sie stellten rundum Checkpoints auf, unterbrachen die Wasserzufuhr, konfiszierten Essen und räumten schließlich alle AktivistInnen in einem massiven Einsatz. Verdrängung durch Stromboykott

Die Perfektionierung des Systems der ethnisch-religiösen Segregation schreitet auch an andernorts voran – gleichzeitig entsteht teilweise recht raffinierter Widerstand dagegen. In den vergessenen Hügeln im Süden der Westbank genießen die BewohnerInnen einer Handvoll ländlicher Gemeinden seit wenigen Jahren zum ersten Mal die einfachen Vorteile einer Stromversorgung. Die israelischen Behörden verbieten den Anschluss an die Stromtrasse - diskriminierende Raumplanung und Genehmigungspolitik wird hier als ein erprobtes Mittel eingesetzt, um sicherzustellen, dass die ländlichen palästinensischen Gemeinden keine Entwicklung erfahren und nach und nach zum Wegzug gezwungen werden. Deshalb umging die israelische Aktivistenorganisation Comet-ME den Stromboykott und installierte kleine Wind- und Solaranlagen.

Doch kaum waren die Anlagen fertig gestellt, erließ die israelische Besatzungsadministration Abrissverfügungen gegen die alternativen Energieanlagen. Eine öffentliche Kampagne von Comet-ME und medico führte dazu, dass die Abrissverfügungen nicht vollzogen wurden. Doch Elad Orian und seine Kollegen von Comet-ME sind zunehmend frustriert: „Seitdem die ersten Abrissverfügungen vor zwei Jahren ausgestellt wurden, kämpfen wir für die Legalisierung der bestehenden Solar- und Windanlagen sowie für Genehmigungen weiterer Anlagen in anderen Gemeinden, die noch immer keinen Zugang zu Strom haben. Doch wir haben nicht eine einzige Genehmigung erhalten. Im Gegenteil immer mehr Abrissverfügungen flattern den armen Bauern ins Haus. Immerhin können die Behörden die Abrissverfügungen noch nicht in die Tat umsetzen, denn wir haben gegen sie Einspruch eingelegt und befinden uns mitten in langwierigen gerichtlichen Verfahren gegen die Abrisse über den offiziellen Weg der israelischen Militärgerichte.“

Der diplomatische Druck der Bundesregierung, die die Anlagen zu einem großen Teil finanzierte, wird wahrscheinlich verhindern, dass die Anlagen abgerissen werden. Doch die israelischen Behörden sind jetzt gewarnt und nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um jeden weiteren Entwicklungsschritt zu verhindern. Dazu haben sie alle Möglichkeiten: In den ländlichen Gebieten der Westbank, die immerhin 60 Prozent der Westbank ausmachen, waltet seit über vierzig Jahren das israelische Militär über alle zivilen Angelegenheiten. Mit der Militärorder 418 löste Israel schon 1971 die lokale Planungsbehörde auf – ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Seitdem sind die palästinensischen Gemeinden, im Gegensatz zu den jüdischen SiedlerInnen, nicht vertreten bei oder beteiligt an Planungsprozessen. Damit haben sie keinerlei Einfluss auf die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft.

Verfehlte Friedenspolitik

Die Situation in den besetzten Gebieten ist auch das Ergebnis einer verfehlten Strategie der wichtigen internationalen Akteure im Nahostkonflikt. Die USA, aber auch die Europäische Union und die Bundesregierung dulden seit Jahrzehnten Israels völkerrechtswidrige Politik. In einer Mischung aus Angst vor Konfrontation mit Israel und der Hoffnung Israel zu Kompromissen bewegen zu können, stellen sie die Verwirklichung von Menschen-, Bürger- und Völkerrecht zurück. Diese Strategie ist nicht nur gescheitert, sie war und ist kontraproduktiv: Israel nutzte die letzten zwei Jahrzehnte, um Fakten zu schaffen, die dem Gedanken eines gerechten Frieden entgegenstehen. Mit jeder weiteren Beschlagnahmung eines Zelts im Jordantal, mit jedem Abriss eines Tierstalls in den südlichen Hebronhügeln schwinden die Bedingungen für gerechten Frieden. Es ist an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren.

* Quelle: medico international, 10. Februar 2014; www.medico.de

Spendenstichwort: Israel-Palästina

Unterstützen Sie die politisch-politisierende mobile Klinik der Ärzte für Menschenrechte – Israel, die AktivistInnen von Comet-ME in ihrem Bemühen um Strom und das Recht auf ein besseres Leben für alle sowie die Basisgesundheitsdienste der Palestinian Medical Relief Society – jenseits aller ethnisch-religiösen Trennlinien, Mauern und Grenzen. medico international bittet um Unterstützung unter dem Spendenstichwort: "Israel/Palästina".
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