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Ein Zurück zum Vorkriegsstand ist undenkbar

Palästinensische Bevölkerung will keine falschen Kompromisse mehr akzeptieren / Neue Einberufungen in Israel

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Israels Militär hat erneut Reservisten einberufen; der Krieg wird wohl weitergehen. Auf der palästinensischen Seite bemühen sich derweil Fatah und Hamas um eine gemeinsame Linie.

Immer wieder versammeln sich auf der Straße vor dem Büro des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas in Ramallah Menschen, um gegen den Krieg in Gaza zu protestieren. Und wenn sie das tun, dann richtet sich die Wut auch gegen die Regierung, die nach Ansicht vieler Palästinenser zu Israel-freundlich ist.

Gerade einmal zwei Monate ist es her, seit die Fatah-Fraktion von Abbas und die Hamas eine Einheitsregierung gebildet haben: Die Hamas akzeptierte Abbas im Amt des Präsidenten und darüber hinaus auch ein Kabinett, in dem die im Gaza-Streifen regierende Organisation nicht direkt vertreten ist. Doch heute ist es so: Wenn sich irgendwo auf der Welt Diplomaten oder Politiker treffen, um über den Krieg im Gaza-Streifen zu sprechen, dann sitzt Abbas nicht mit am Tisch. Und als vor einigen Tagen Jasser Abed Rabbo, ein führender Funktionär der Fatah, bekanntgab, man habe gemeinsam mit Hamas eine humanitäre Waffenruhe beschlossen, sagte die Hamas dazu erst einmal gar nichts.

Bis Stunden später Mohammad Daif, der Kommandeur der Ezzedin-al-Kassam-Brigaden im Fernsehen der Hamas auftauchte, und erklärte, einen Waffenstillstand werde es keinesfalls mehr geben, man werde so lange weiter kämpfen, bis die Forderungen der Hamas, also vor allem die Öffnung der Grenzen für den Güter- und Personenverkehr, erfüllt worden seien.

Oder anders gesagt: »Wir denken nicht einmal im Traum daran zuzulassen, dass die Fatah hier ein israelisches Marionetten-Regime aufbaut, wie sie es in Ramallah gemacht hat«, sagt Hassan Abu Haschisch, ein Funktionär der politischen Hamas im Gaza-Streifen. Man stehe zur Einheitsregierung, aber das Verhältnis zu Israel müsse »ein Verhältnis zwischen Staaten« sein: »Die palästinensische Regierung darf kein Mechanismus der Kontrolle über das palästinensische Volk durch einen anderen Staat sein.«

Er und andere hochrangige Funktionäre der Hamas machen keinen Hehl daraus, dass man sich auch im Wahlkampf befindet. Zwar ist unklar, ob die eigentlich für November vereinbarten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Doch sowohl bei der Hamas als auch bei beiden Organisationen ist man sich sehr bewusst, dass ein Führungswechsel in Ramallah notwendig ist. Abbas habe durchaus bei den Vereinten Nationen Erfolge erzielt, indem er die Aufwertung zum Nichtmitgliedsstaat erreichte, internationalen Verträgen beitrat, nicht auf die israelische Forderung nach »Friedensverhandlungen um der Verhandlungen willen« (Abed Rabbo) eingegangen sei. Doch die vergangenen Jahre wirkten einfach nach: Er habe zu viel an Vertrauen verspielt, um es jemals zurückgewinnen zu können.

Ess ist nicht vor allem deshalb, weshalb die Hamas nun damit beginnt, sich als neue Volksbefreiungsbewegung vorzustellen: Sie selbst hat ebenfalls stark gelitten, durch die israelische Blockade, die Abriegelung durch Ägypten seit dem Frühjahr, und sie muss den Menschen im Gaza-Krieg nun erklären, warum mittlerweile mehr als 1300 Menschen dem Krieg zum Opfer gefallen und mindestens 200 000 auf der Flucht sind. Die Leidensgrenze, sagen Ärzte und Psychologen vor Ort, sei bei den Menschen weit überschritten. Fehl- und Unterernährung sind weit verbreitet, physische und psychische Traumata mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme.

Ein Waffenstillstand, wie er zum Ende des letzten Gaza-Krieges geschlossen wurde, wäre mit den Menschen nicht machbar: Die Leute hätten im wahrsten Sinne des Wortes nichts zu verlieren, sagen Psychiater vor Ort. Es sei undenkbar, dass man akzeptieren werde, dass die Blockade und damit die bisherige kaum erträgliche Situation bestehen bleibt. »Man muss im Kopf behalten, dass viele der psychischen und körperlichen Schäden schon vor Kriegsbeginn entstanden sind«, sagt Mahmud Khalili vom Schifa-Hospital in Gaza.

Doch zunächst einmal wird der Krieg weiter gehen: Israels Militär hat nun erneut 16 000 Reservisten einberufen, um einen Teil der Bodentruppen zu ersetzen. Regierungschef Benjamin Netanjahu bereitete die Öffentlichkeit derweil darauf vor, dass der Einsatz weiter gehen werde, bis die »Terrortunnel« zerstört sind.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 1. August 2014


Der Krieg gegen Gaza lässt Ramallah nicht kalt

Die Protestaktionen im Westjordanland nehmen zu – die Opfer des israelischen Militärs auch

Von Pepe Egger, Ramallah **


Es lässt die Palästinenser im Westjordanland nicht kalt, dass ihre Landsleute in Gaza von der israelischen Militärmaschinerie derzeit zu Hunderten getötet werden.

Es knistert zwischen Hebron im Süden und Jenin im Norden des von Israel besetzten Territoriums. Die Geduld der Palästinenser scheint nicht mehr groß ...

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Die Infrastruktur der Besatzung sieht ziemlich lädiert aus, hier am Qalandiya-Checkpoint zwischen Jerusalem und Ramallah im Westjordanland. Ein klobiger Wachturm ist bis auf halbe Höhe tiefschwarz angekokelt. Die staubige Spur, auf der normalerweise die von Ramallah kommenden Autos sich dem Checkpoint nähern, um dann hier im Stau zu stehen, ist mit mannshohen Betonblöcken versperrt, und bedeckt mit schwarzer Asche, verbrannten Autoreifen, Steinen, verkohltem Müll. Niemand hat sich die Mühe gemacht, die Spuren der nächtlichen Demonstrationen wegzuräumen.

Nachts gibt es Proteste in Ostjerusalem und im Westjordanland, wann immer das israelische Militär Verhaftungen im besetzten Gebiet durchführt; und immer an den selben Reibungspunkten: den Checkpoints, an den Militärstützpunkten, an den israelischen Siedlungen, die direkt neben palästinensischen Dörfern liegen. Es sind meist Kundgebungen, die friedlich beginnen, sich aber blitzschnell hochschaukeln, sobald die Teilnehmer auf die israelische Armee oder die palästinensische Polizei treffen, die sie mit Tränengas beschießen. Werden Steine geworfen, deklariert die israelische Armee den Protest zum »riot« und geht gegen ihn mit Gummigeschossen und scharfer Munition vor. Verletzte gibt es so fast immer, Tote oft.

Kifah (Namen geändert) hat noch einmal Glück gehabt. Zwei Schüsse in den Bauch hat er abgekriegt, auch danach hätten die Soldaten noch auf ihn eingeprügelt und dem Rettungswagen den Weg versperrt. Kifah studiert, er macht einen Bachelor in Business Management, trägt eine Zahnspange, und hat Steine auf Soldaten außerhalb der Siedlung Bet El nahe Ramallah geworfen. Er ist der Ansicht, dass man »etwas tun« müsse, nicht immer nur reden. Jetzt liegt er im Krankenhaus, muss noch einmal operiert werden. Er hat nicht viel Kraft, aber er nimmt sie sich, um seine Geschichte zu erzählen, stolz und froh zugleich.

Schüsse auf Steinewerfer, das ist die Normalität hier. Das ist Alltag seit vielen Jahren. Was neu ist, sind die Massenproteste, mehr als zehntausend Menschen auf der Straße, das gab es seit langem, vielleicht sogar Jahrzehnten nicht mehr. Was in Gaza passiert, war hierzu Anlass, doch sogleich gesellten sich andere Gründe dazu, deren wichtigster nach wie vor bleibt: die Forderung nach dem Ende der israelischen Besatzung.

Wenn dies der Beginn der dritten Intifada ist, dann ist es – bis jetzt – eine Protestbewegung, die größtenteils ohne Waffen auskommt. Das ist nicht wenig, angesichts der militärischen Antwort, auf die die Proteste stoßen, auch wenn dies in israelischen, und oft auch in deutschen, Medien anders wahrgenommen und dargestellt wird. Hier folgt man fast immer der Diktion der Armee, die sich mit »riots« konfrontiert sieht und dementsprechend hart reagiert.

Samar jedoch ist nicht überzeugt, dass die Kundgebungen etwas bringen werden. Samar betreibt eine Galerie in Ramallah. Sie glaubt, dass es hier Kunst gibt, die auch international bestehen kann, und dass Kunstwerke aus Berlin, London, Paris, hier Käufer finden werden. Sie raucht schnell und lacht heiser. Sie bemängelt, dass die Proteste kein politisches Programm haben, keine artikulierte Strategie, wie denn ein Ende der Besatzung erreicht werden und was dann folgen soll.

Rami ist entrüstet. Er unterrichtet an der Universität Bir Zeit unweit von Ramallah, und konstatiert seit langem, dass die meisten Palästinenser alles Vertrauen in irgendeinen politischen Prozess verloren haben. Niemand kann sich noch vorstellen, wie dadurch die Lage verbessert werden könnte. Da sind die jetzigen Massenproteste wie ein frischer Wind. »Ein Anfang«, sagt Rami, und lacht sarkastisch; vielleicht auch, damit nicht gleich zu viel Hoffnung aufkommt.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 1. August 2014


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