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Verfassung ohne Staat

Die palästinensische Konstitution liegt jetzt vor

Von Reiner Bernstein

Nach den zahlreichen Anläufen seit Ende 1993 liegt die Verfassung des Staates Palästina im März 2003 endlich vor. Zu den Gründen für die Verzögerung gehörte Arafats Unwillen, eine klare Abgrenzung zwischen einem präsidialen und einem demokratisch verfassten Regierungssystem hinzunehmen; sie ist jetzt nur in Maßen erfolgt. Auch legte Arafat keinen Wert darauf, die doppelte Führungsstruktur von Autonomiebehörde und PLO zu beenden, der er sich als Vorsitzender beider Gremien nach Gutdünken bediente. Das Volk als Souverän trat kaum in Erscheinung, öffentliche Aufrufe mussten sich des Verdachts des Hochverrats erwehren, der Gesetzgebende Rat - das Parlament - kämpfte gegen seine politische Marginalisierung, und das Justizwesen befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Dass das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in den letzten Jahren sank, war nach palästinensischen Beobachtungen im wesentlichen darauf zurückzuführen, dass das israelische Militär im Kampf gegen die "Intifada" Gefängnisse und Polizeistationen, in denen Palästinenser misshandelt wurden, gleich mit zerstörte.

Obwohl der palästinensische Staat in weiter Ferne liegt und auch der jüngste Friedensplan, "Road Map" genannt, kein souveränes und lebensfähiges Gemeinwesen begründen wird, vermittelt der neue Konstitutionalismus zumindest nach außen den Schein, dass ein normales staatliches Leben entsteht. Doch nach dem gründlichen Scheitern der Osloer Vereinbarungen kann selbst Arafat nicht mehr davon überzeugt sein, dass dem Namen "Palästina" ein derart gewaltiger Suggestivwert innewohnt, der Israel zur politischen Umkehr von seinem Verhinderungsfundamentalismus veranlassen könnte. Sharon hat vor kurzem noch einmal von der Westbank als der "Wiege des jüdischen Volkes" gesprochen und dabei unterstrichen, dass seine Regierung allein über das Ausmaß "schmerzhafter Kompromisse" entscheiden werde. Desto bemerkenswerter ist der Realismus, der die palästinensische Verfassung an zwei Stellen kennzeichnet: Sie setzt die Grenzen des künftigen Staates auf der Linie vom 4. Juni 1967 fest, zum anderen bietet sie allen Flüchtlingen von 1948 die Einwanderung an, auch wenn sie nicht umhin kommt, ihre "legitimen Rechte auf Rückkehr in ihre Heimat" zu betonen.

Andere prozedurale und politisch-inhaltliche Aussagen wecken indes nachdenkliche Besorgnis. So wurde die Verfassung von einem Ausschuss erarbeitet, dem siebzig Personen angehörten, denen vier internationale Berater zur Seite standen. Die Übergabe des Dokuments an das Zentralkomitee der PLO setzte die Tradition fort, das Parlament von grundlegenden Entscheidungen fernzuhalten, auch wenn ihm eine Reihe Abgeordnete angehörten. Zwar sind der Legislative 45 der 193 Artikel gewidmet, doch ihre Befugnisse werden in lapidarer und vager Kürze abgehandelt: "Das Repräsentantenhaus wird die gesetzgebende Gewalt ausüben. Es bestätigt den allgemeinen Haushalt, der vom Kabinett vorgelegt wird. Es überwacht die Handlungen der Exekutive nach den Vorgaben der Verfassung." Alle anderen Bestimmungen sind administratives Beiwerk, wenn man einmal davon absieht, dass die Parlamentarier der Regierung den Abschluss internationaler Verträge und Verhandlungen zu ihrem Beitritt gestatten - auch dies Vorkehrungen, die Sharon ausdrücklich ausschließen möchte, weil sie palästinensischen Souveränitätsvorstellungen entsprechen, die Israel nur partiell erfüllen will.

Zudem wird dem künftigen Parlament eine Schwächung durch die Etablierung eines imaginären "Konsultativrates" mit 150 Mitgliedern aus Palästina und dem Ausland zugemutet, die der Staatspräsident ernennt, bevor er selbst mit politischen Kernaufgaben Erwähnung findet: dem Schutz der Verfassung, der Wahrung der "Einheit des palästinensischen Volkes", der Sicherung der existentiellen Kontinuität des Staates und seiner nationalen Unabhängigkeit, der Garantie der Funktionstüchtigkeit der Behörden - eine Angelegenheit, die Arafat bisher durchaus vernachlässigte -, die Ausübung judikativer Aufgaben, dem alleinigen Recht auf Ernennung des Ministerpräsidenten sowie in Abstimmung mit dem Premier und dem Parlamentspräsidenten der Ausrufung des Notstandes. Vor allem jedoch soll der Staatspräsidenten als Kommandeur des nationalen Sicherheitsrates fungieren - der Konflikt der vergangenen Tage mit Mahmud Abbas hat eine konstitutionelle Basis.

Dem Premier und seinem Kabinett sind zwar 25 Artikel gewidmet, in denen man aber Aussagen zur Richtlinienkompetenz vergeblich sucht. Vielmehr liegt das argumentative Schwergewicht auf einem nebulösen Konsensgedanken, der um so weniger realistisch ist, desto näher die Stunde der Wahrheit rückt: der Zwang zum Austarieren unterschiedlicher Überzeugungen und Interessen. Indem Regierungsamt und wirtschaftliche Erwerbstätigkeit inkompatibel sein sollen, wendet sich diese Vorkehrung gegen bisherige Verhältnisse von Vetternwirtschaft und Korruption. Schließlich wird die Unabhängigkeit der Justiz und seiner Richter festgeschrieben, die Sondergerichte entfallen - in der Vergangenheit hatten "Revolutionäre Volksgerichte" unter dem Deckmantel der PLO für Aufsehen gesorgt, wenn sie etwa gegen vermeintliche und tatsächliche Kollaborateure vorgingen.

Die wohl gravierendsten Aussagen trifft die Verfassung jedoch in Sachen Religion - und haftet ihr den Gusto der Unglaubwürdigkeit an. Der mehrfachen Betonung des demokratischen Profils, das die Prinzipien der religiösen, bürgerlichen, politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Ebenbürtigkeit achte, folgt umgehend die Anerkennung des Islam als offizieller Religion und der "Sharia" als Hauptquelle der Gesetzgebung. Damit wird dem Staat der Charakter einer moralischen Anstalt zugemessen, nachdem er sich auf die Deklaration der universalen Menschenrechte, auf die Gleichheit vor dem Gesetz, auf die Meinungs- und Gewissensfreiheit und sogar auf das Recht zum Glaubenswechsel verpflichtet. Solange die "Islamische Widerstandsbewegung (Hamas)" von ihrer Selbstverpflichtung nicht abrückt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts für die Befreiung ganz Palästinas kämpfen zu wollen, so lange stellt sich die Frage, ob die Betonung des islamischen Primats den Gegnern von pluraler Demokratie und rechtsstaatlicher Ordnung auf eine gefährliche Konzessionsbereitschaft hinausläuft. Will der Verfassungsgebende Ausschuss jener scheinbar unwiderstehlichen Renaissance des Religiösen in der palästinensischen Öffentlichkeit Rechnung getragen? Bislang steht nur eines fest: Die unablässige Kritik an Israel wegen seines Anspruchs als jüdischer Staat hat sich selbst überholt.

Die grundlegenden Schwächen der Verfassung springen mithin ins Auge. Zu ihnen gehören Regelungen, die üblicherweise Gegenstand allgemeiner Gesetze sind oder auf dem Verordnungswege geklärt werden. Das Recht auf den Erwerb der Staatsbürgerschaft ist nur vorsichtig angesprochen. Über das Verhältnis zur palästinensischen Mehrheitsbevölkerung in Jordanien oder zu den staatenlosen Flüchtlingen in Libanon, Syrien und den Golfstaaten verliert die Verfassung kein Wort. Die Harmonisierung fortgeltender ottomanischer, jordanischer, ägyptischer und britischer Kodizes wird nicht thematisiert. Gegen Vorbehalte wie diese kann eingewendet werden, dass sie die Kontexte des israelischen Besatzungsregimes vernachlässigen. Doch richtig ist auch, dass Arafat die Chancen der zivilgesellschaftlichen Entwicklung nicht genutzt hat, weil er zu sehr auf seinen machtpolitischen Vorteil bedacht war. Diese Pflichtvergessenheit hat Israel in seiner Politik der vollendeten Tatsachen zumindest ermutigt. Ein Trauerspiel in vielen Akten.

Literatur:
Constitution of the State of Palestine, Third Draft, 7 March 2003, revised in March 25, 2003 (via www.jmcc.org/documents/palestineconstitution-eng.pdf


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