Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wessen Staatsstreich genau?

Komplizierte politische und rechtliche Verhältnisse in Palästina

Von Virginia Tilley *

Nachdem er Ismail Hanija von der Hamas entlassen und seine demokratisch gewählte Regierung aufgelöst hatte, hat der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) Mahmoud Abbas jetzt Salam Fajad [1] als neuen Ministerpräsidenten eingesetzt - zum verständlichen Entzücken des Westens. Abbas und Hanija klagen sich gegenseitig an, die jeweils andere Seite habe einen Staatsstreich gegen die legitime Autorität gestartet. Nichtsdestotrotz hat sich jetzt ein frisches Sortiment würdevoller palästinensischer Gesichter vor den Kameras aufgestellt als Fajads neue "Notstandsregierung" vereidigt wurde. Daß die neue PA im Grunde genommen keine Macht in der Westbank und überhaupt keine in Gaza hat, ist das erste eklatante Problem bei diesem Schauspiel. (Bittere Witze über eine 'Zwei-Staaten-Lösung', bestehend aus Westbank und Gaza-Streifen zirkulierten bereits.)

Eine internationale Gemeinschaft, beunruhigt durch die 'Staatsstreich'-Beschuldigung, könnte sich der Ansicht anschließen, die Fajad-Regierung sei scheinbar korrekt im Amt. Aber die 'Staatsstreich'-Klage stolpert über ein grundlegendes Problem - daß Abbas´ Ernennen eines neuen Ministerpräsidents selbst völlig illegal war. Die neue 'Notstandsregierung' ist ebenfalls ungesetzlich. Gemäß dem Grundgesetz Palästinas (in der 2003 ergänzten Form) [2], das als Verfassung der PA dient, kann Abbas keines dieser Dinge tun. Noch kann die neue 'Notstandsregierung' irgendein demokratische Mandat beanspruchen. Das bedeutet, daß Abbas und die Fajad-Regierung durch Verordnungen außerhalb des Rahmens des Grundgesetzes herrschen. Also auf welcher Grundlage wird die Regierung wohl regieren – und auf welcher Grundlage werden wohl ausländische Regierungen damit umgehen?

Was das Grundgesetz betrifft, so hat Abbas eine ganze Menge von Artikeln wie auch den Geist der gegenseitigen Kontrolle und Gewaltenteilung („checks and balances“) verletzt, die während der Arafat-Ära teilweise dafür bestimmt waren, die Macht der Präsidentschaft zu beschränken. Mit der vollen Unterstützung der Vereinigten Staaten und Israels (wenn nicht sogar auf ihr Insistieren hin) hat Abbas zahlreiche Bestimmungen des Grundgesetzes geradezu verkrüppelt, einschließlich der folgenden:
  • Der Präsident kann seinen Ministerpräsidenten entlassen (Artikel 45), aber er kann nach dem Gesetz nicht einen neuen Ministerpräsidenten ernennen, der nicht die Mehrheitspartei (d.h. Hamas) vertritt.
  • Wenn ein Präsident den Ministerpräsidenten entläßt, gilt die Regierung (Artikel 83 [3]) als zurückgetreten, aber das amtierende Kabinett (hier das Hamas-geführte Kabinett) soll regieren bis ein neues Kabinett vom Parlament (Artikel 78 [4]) bestätigt wird.
  • Nur das Parlament kann den neuen Ministerpräsidenten und das Kabinett bestätigen, und die neuen Amtsinhaber können ihre Eide nicht ablegen (Artikel 67 [5]) oder ihre Aufgaben wahrnehmen (Artikel 79 [6]) bis das geschehen ist. Wir könnten jetzt erwarten, daß die Fajad-Regierung zum Parlament geht, um eine Post-hoc-Bestätigung zu bekommen, aber wenn das Parlament wegen Nichterreichens des Quorums nicht abstimmen kann - weil zu viele seiner Mitglieder im Gefängnis sind [7] oder sich weigern teilzunehmen -, kann das Kabinett nicht gesetzmäßig bestätigt werden. Das Grundgesetz stellt keinen Rechtsbehelf gegen Umstände zur Verfügung, in denen das Parlament nicht abstimmen kann, um das Kabinett oder die Handlungen des Präsidenten zu bestätigen.
  • Der Präsident kann in Notstandsfällen per Verordnung herrschen (Artikel 43), aber das Parlament muß alle diese Verordnungen in seiner ersten Sitzung genehmigen.[8]
  • Der Präsident kann das Parlament während eines Notstands nicht suspendieren (Artikel 113).
  • Der Präsident hat auch nicht die Macht, vorgezogene Wahlen anzusetzen.
  • Das Grundgesetz hat überhaupt keinerlei Bestimmung für eine "Notstandsregierung."
Was bedeutet das für die PA? Sie ist nicht mehr dasselbe Geschöpf. Die Fajad-Regierung ist das Stiefkind eines extra-legalen Prozesses ohne demokratisches Mandat. Das ganze Manöver ist nicht exakt ein Palast-Coup, aber es ist so etwas ähnliches.

Was bedeutet das für die Welt? Ausländische Regierungen sehen sich jetzt einem der unwillkommensten Ereignisse der internationalen Diplomatie konfrontiert - der plötzlichen Transformation einer Regierung in eine andere Art von Regierung. Wie bei jeder Revolution oder einem Staatsstreich muß jetzt eine diplomatische Anerkennung der "Notstandsregierung“ von Salam Fajad als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes neu erwogen werden. Zum Beispiel, durch welche Autorität handelt die "Notstandsregierung" im Namen der Palästinenser in der Westbank und in Gaza? Welche Kompetenzen und Verantwortlichkeiten hat die "Notstandsregierung" jetzt? Auf welcher legalen und politischen Grundlage sollen diplomatische Beziehungen aufrechterhalten werden?

Wir müssen zugeben, daß diese Fragen rechtliche wie auch politische Fragen sind. Die PA ist das Geschöpf des Oslo-Abkommens von 1993 und 1995 (sie sollte für eine Periode "von höchstens fünf Jahren" dienen). Aber das Grundgesetz wurde später entwickelt, um ihren demokratischen Charakter zu bestätigen und zu sichern. Dieses Paket von Gesetzen repräsentierte eine palästinensische staatsbauende Maßnahme, einen Anlauf-Rahmen für die Antizipation der palästinensische Demokratie (oder zumindest ihre Bejahung) der eventuellen palästinensischen Souveränität. Folglich verweist das Grundgesetz in seiner Einleitung auf das 1995er Oslo 2-Abkommen, beruft sich aber auch auf das palästinensischen Volk als seine höchste politische Autorität (Artikel 2: "... das Volk ist die Quelle der Macht ..."). Regierungen könnten deshalb versuchen, die Aufrechterhaltung der Beziehungen mit der neuen Fajad-Regierung aus Solidarität mit dem palästinensischen nationalen Bestreben - obgleich in der Krise - zu rechtfertigen.

Doch bei diesem Versuch sehen sich ausländische Regierungen jetzt dubiosen und perplexen Optionen gegenüber:
Sie könnten die diplomatischen Beziehungen mit der Fajad-Regierung suspendieren, weil sie illegal ist, und mit der gewählten Hanija-Regierung verkehren. Aber das könnte ihre Kommunikation mit Ramallah in einer kritischen Zeit schwächen und sie mit den USA und Israel entzweien.

Sie könnten diplomatische Beziehungen mit der Fajad-Regierung aufrechterhalten, ihren Anspruch akzeptierend, daß die Hamas-Regierung einen Staatsstreich startete, würden aber dann eine Regierung anerkennen, die ihre eigenen Gesetze verletzt und selbst effektiv einen Staatsstreich begangen hat.

Sie könnten die neue Fajad-Regierung unter der Bedingung akzeptieren, daß sie jetzt anderen Bestimmungen des Grundgesetzes folgt, wie der Erlangung der Bestätigung durch das Parlament und/oder dessen Ausrufen von Neuwahlen. Aber das Grundgesetz erlaubt dem Kabinett nicht, selbst Neuwahlen auszurufen, und dieses neue Kabinett hat kein gesetzliches Mandat, überhaupt zu regieren. (Es ist auch schwerlich zu sehen, wie neue nationale Wahlen stattfinden könnten, wenn sich die Hanija-Regierung weigert, das neue Kabinett anzuerkennen, und die Bedingungen für freie und faire Wahlen in beiden Territorien so gegensätzlich sind.)

Sie könnten ein klassisches diplomatisches Ausweichmanöver machen, indem sie die Situation eine temporäre Verfassungskrise nennen, und Beziehungen mit beiden Seiten aufrechterhalten, aber diese Taktik wird sich schnell festfahren, weil die aktuellen Ereignisse eher aussehen wie ein kompletter Kollaps des Grundgesetzes und seines Systems.

Mit dieser Klemme konfrontiert, könnten sie einen Schritt zurück tun: Sie heben die formellen diplomatischen Beziehungen auf, erhalten aber die Kommunikation mit beiden Seiten bis auf weiteres. Aber wie steht's mit jenen formellen Abmachungen (Austausch, Handel, Sicherheit, diplomatische Vertretung), die sie mit der PA unterzeichnet haben? Welche Seite ist wirklich repräsentativ und wem ist sie verantwortlich?

Es gibt andere legalistische Manöver, die sie versuchen könnten, wie das Behandeln der PA nach dem Wortlaut des Oslo-Abkommens oder der Gaza-Jericho-Abmachung von 1994. Aber keines jener Dokumente sieht einen Ministerpräsidenten vor oder irgendeines der Verfahren, die in Ramallah gehandhabt werden.

Kurz gesagt, die diplomatische Landschaft ist jetzt in völliger Unordnung. Die Fajad-Regierung hat kein demokratisches Mandat, funktioniert nicht nach den Regeln, die ihre demokratische Legitimität begründen, und so ist sie nur ein Abklatsch der 'Regierung', mit der viele der Staaten der Welt diplomatische Beziehungen aufnahmen. Es hilft nicht, daß die Vereinigten Staaten, ein gehorsames Europa und zahnlose arabische Staaten aufmarschieren und sie als die alleinige legitime Autorität salben. Noch hilft es vorzugeben, daß Hamas - eine breite Bewegung mit populärer Legitimität - einfach durch Verordnungen von Abbas und ein nettes politisches Theater verschwinden wird.

Es ist nicht klar, wie lange dieser fadenscheinige diplomatische Vorwand der genauen Prüfung durch eine skeptische Welt standhalten kann. Noch ist klar, welche politische Kosten ausländische Regierungen zahlen müssen, wenn sie versuchen, damit zu spielen, besonders, wenn das jetzt traumatisierte palästinensische Volk in den Territorien und in der Diaspora dagegen zu protestieren beginnt, daß ihre Regierung durch antidemokratische Strohmänner für die Agenda Israels und der USA entführt wurde. Angegriffen zu werden für die Unterstützung dieser Pantomime-Regierung, war nicht die Absicht jener Regierungen, die die PA anerkannten, um das palästinensische Volk zu unterstützen. Wie der UN-Diplomat Alvaro De Soto in seinem eloquenten 'Bericht zum Ende der Mission' in diesem Mai sagte, 'Es mag besser sein, derjenige zu sein, der Fragen über die neue Kleidung des Kaisers stellt, als selbst als nackter Kaiser verspottet zu werden'.

Fußnoten
  1. „Die amerikanische Regierung entsandte den Bankier nach Ramallah, um der palästinensischen Autonomiebehörde beim Aufbau ihrer Finanzbehörde zu helfen. Im Jahre 2002 setzten die Amerikaner Fajads Ernennung zum Finanzminister unter Arafat durch.“ (FAZ v. 18.6.07). Er ist – wie Hamid Karzai (Präsident Afghanistans) - Staatsbürger der USA. Bei der letzten palästinensischen Parlamentswahl kandidierte er mit einer eigenen Formation „Dritter Weg“, die 2,4 Prozent der Stimmen errang (vgl. Asia Times Online, 30.6.07. (Anmerkung des Übersetzers – wie auch alle folgenden Anmerkungen)
  2. http://en.wikisource.org/wiki/Constitution_of_Palestine_%282003%29
  3. Nach der Fassung des bei Wikisource publizierten Grundgesetzes (Anm. 3) müßte es hier heißen: Artikel 81.
  4. Artikel 79 (ebd.)
  5. Artikel 68 (ebd.)
  6. Artikel 69 (ebd.)
  7. Mehr als die Hälfte (ca. 40) der Hamas-Abgeordneten befindet sich derzeit in israelischen Gefängnissen (vgl. FAZ, 18.6.07).
  8. Diese Sitzung müßte innerhalb der nächsten 10 Tage stattfinden (bis zum 16.7.), denn der Ausnahmezustand darf nur für höchstens 30 Tage verhängt werden und kann dann auch nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verlängert werden (Artikel 110). Vgl. FAZ, a.a.O.
* Virginia Tilley ist eine US-Bürgerin, die augenblicklich in Pretoria, Südafrika, arbeitet. Sie kann über vtilley@web.co.za erreicht werden.

Quelle: http://electronicintifada.net/v2/article7038.shtml


Übersetzung aus dem Englischen: Klaus D. Fischer


Zurück zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage