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Mord in Zeitlupe

Was geschieht hinter der Mauer in Palästina?

Von Heinz-Dieter Winter *

Weiß man in der deutschen Politik, in den Medien, wissen die Bundesbürger, in welcher unmenschlichen Situation 3,5 Millionen Palästinenser leben, welchen Demütigungen sie täglich augesetzt sind, wie israelische Militärschläge gegen mutmaßliche Terroristen das Leben unschuldiger Männer, Frauen und vor allem auch vieler Kinder zerstören? Wissen sie, was wirklich hinter der acht bis vierzehn Meter hohen und inzwischen 400 Kilometer langen Mauer geschieht, die teilweise mitten durch palästinensisches Gebiet geht? Weiß man, wie viele Palästinenser so verzweifelt sind, dass sie sich schon mit dem Gedanken tragen, Palästina zu verlassen?

Und wenn all das den verantwortlichen deutschen Politikern bekannt sein sollte, warum wird der völkerrechts- und menschenrechtswidrige Charakter des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser nicht offen angesprochen, geschweige denn einer Politik in den Arme gefallen, die sich letztlich zerstörerisch für den jüdischen Staates selbst auswirken wird? Ellen Rohlfs, unterstützendes Mitglied der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom und Übersetzerin der Kommentare von Uri Avnery und anderer israelischer Friedensstimmen, hat wohl mehr als zwanzig Mal Palästina besucht. In ihrer erschütternden Publikation dokumentiert sie, wie die Lage »hinter der Mauer« ist, welche Verstöße gegen das Völkerrecht und die Menschenrechtskonventionen Israel dort begeht. Sich auch auf zahlreiche israelische Bobachter berufend, stellt sie fest, dass die Politik ständiger Demütigung, Unterdrückung, Vertreibung und Tötung von Palästinensern nicht »nur« Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, sondern auch einer schleichenden Vernichtung der palästinensischen Identität als Volk gleichkommt und durchaus die völkerrechtliche Kriterien eines Genozids erfüllt; »Völkermord im Zeitlupentempo« nennt sie es.

Die Autorin ist sich der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage bewusst. Ihr wäre es lieber, sie hätte Unrecht. Doch die Fakten, die sie dokumentiert, sind erdrückend. Dieses Vorgehen gegenüber den Palästinensern hat lange Tradition. So erklärte während der Pariser Friedenskonferenz 1919 Chaim Weizman, einer der maßgeblichen Initiatoren der Balfour-Deklaration: »Eines Tages werden sie (die Araber) gehen müssen und uns das Land überlassen.« Ben Gurion forderte 1937, die Araber zu vertreiben und »ihren Platz einzunehmen«.

Ellen Rohlfs zitiert israelische Politiker und Militärs, die sich offen für Vertreibung und Völkermord ausgesprochen haben, wie der 2006 von Ministerpräsident Olmert in seine Regierung aufgenommene Avigdor Lieberman. Er forderte, 90 Prozent der Araber zu vertreiben und »eine chirurgische Beseitigung zu tätigen«. Und der damalige Generalstabschef Shomrom erklärte im Juni 1989: »Um den Aufstand zu beenden gibt es nur drei Möglichkeiten: Transfer, Aushungerung oder physische Vernichtung.« Also Völkermord.

Angesichts solcher Erklärungen ist es verwunderlich, dass jene kritischen Publizisten in und außerhalb Israels, wie Uri Avnery, der ehemalige General Matti Peled, die Professorin Tanja Reinhart, die Journalistin Amira Hass, der Politikwissenschaftler Ilan Pappe, die Rechtsanwältin Felicia Langer und der amerikanische Linguist Noam Chomsky, die diesen Genozid entlarven und anprangern, zuweilen als »Verräter am Judentum« und »Nestbeschmutzer« gebrandmarkt werden.

Ellen Rohlfs zeigt, wie die Palästinenser nach und nach systematisch aller Rechte beraubt werden – der Menschenrechte, des Rückkehrrechts als Flüchtlinge, der Rechte auf eigen Ressourcen, wie Wasser und Land, des Rechts auf Hausbau, der Rechte auf Arbeit, auf Lebensunterhalt, der Rechte auf Handel, Wirtschaft und Infrastruktur sowie des Rechtes auf ein Existenzminimum. Kultur, Architektur und Symbole der Geschichte der palästinensischen Araber werden zerstört. Dem Vorwurf, die Palästinenser seien Terroristen, hält die Autorin entgegen, dass jedes Volk, das so unmenschlich und demütigend behandelt wird »nach psychologischem Gesetz mit Gewalt reagieren würde. Es ist aber nur ein winziger Prozentsatz, der größte Teil des Volkes reagiert erstaunlicherweise mit einer unendlichen Geduld«.

Hajo G. Meyer, der Auschwitz überlebt hat, bringt in seinem Vorwort die Hoffnung zum Ausdruck, dass diese Dokumentation dazu beitragen möge, »den deutschen Politikern, und damit auch den europäischen klar zu machen, dass man sich nicht länger von einer Politik erpressen lassen darf, die solche menschenunwürdigen Pläne hegen darf, wie die israelische.« Und das nicht nur, um der Gefahr der Vernichtung der palästinensischen Gesellschaft entgegenzutreten, sondern auch, um eine Politik zu beenden, die – wie Meyer urteilt – zur »psychischen Aushöhlung der israelischen Bevölkerung« und »letztlich – von innen heraus – auch zu einem Untergang der israelischen Gesellschaft führen wird«.

Der von Ellen Rohlfs dokumentierte Prozess der Zerstörung der palästinensischen Identität könnte noch aufgehalten werden, wenn starker Druck von außen, der derzeit nur von Europa kommen könnte, erfolgt, um Israel zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu zwingen. Nur dadurch kann der Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen werden.

Ellen Rohlfs: »Nie wieder!» Was geschieht eigentlich hinter der Mauer in Palästina? Selbstverlag, 182 S., br., 10 EUR.
Zu beziehen über: Ellen.Rohlfs@freenet.de


* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2007


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